Einführung in das wissenschaftliche Schreiben mit Ludwig Wittgenstein

Die beiden Philosophien von Ludwig Wittgenstein eignen sich gut
zur Einführung ins wissenschaftlichen Schreiben:

(1) Erste Stufe des wissenschaftlichen Schreibens

Nur sagen, was sich objektiv sagen und belegen lässt.
Über alles andere sollte man schweigen, d.h. weglassen.
Subjektive Meinungen und Vorlieben haben in einer wiss. Arbeit nichts zu suchen.
„Ich“ und „Wir“ sind in der wiss. Arbeit verboten.

Vorurteile sind als solche zu erkennen und forschend durch belegbare Urteile zu ersetzen.
Methodisches, reflektiertes Vorgehen ist dabei Pflicht.

Das was sich sagen lässt, lässt sich klar und deutlich,
gut strukturiert und nachvollziehbar sagen.

Formale Kriterien, richtiges Zitieren gehören dazu,
siehe „Regeln für wissenschaftliche Arbeiten
oder „Leitfaden zur Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten
oder [Heesen 2014] Bernd Heesen: „Wissenschaftliches Arbeiten –
Methodenwissen für das Bachelor-, Master- und Promotionsstudium“
http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-43347-8

(2) Zweite Stufe des wissenschaftlichen Schreibens

Wissenschaftliches Schreiben versucht immer wieder,
die Grenze des Sagbaren zu verschieben.

Zunächst beginnt es subjektiv mit vagen Vorstellungen und
diffus wahrgenommenen Diskrepanzen und Dissonanzen,
deren Spur man systematisch folgt,
um immer klarer objektiv „be-greifen“ zu können,
um was es eigentlich geht.
Forschen und Detektivarbeit haben viel gemein.

Es handelt sich also um einen Prozess aus der Subjektivität heraus
in das Begreifen des Objektiven hinein.

Sabine Knauer beschreibt in [Knauer 2006] diesen Prozess
treffend folgendermaßen:

„Ich versuche […] einen Weg aus der Sprachlosigkeit,
im […] Sinne in einer metasubjektiven Reflexion
‚Begriffe‘ herauszuarbeiten und anzubieten,
mit denen man bisher nicht Gesagtes ‚sagbar‘ machen kann,
womit es nicht nur der sozialen Selbstverständigung zugänglich wird,
sondern ggf. auch in wissenschaftlicher Rede verbreitet
und zur Diskussion gestellt werden kann.“

Die beiden Stufen entsprechen ungefähr den beiden Philosophien Wittgensteins:
(1) Tractatus (die frühe Philosophie Wittgensteins)
(2) Sprachphilosophie (die späte Philosophie Wittgensteins)

ad (1): Die erste Stufe beruht auf dem Weltbild,
dass es eine objektive Wahrheit gäbe
und ich nur meine eigene Subjektivität genügend unterdrücken müsse,
um der Wahrheit näher zu kommen.
Mein Wollen, meine Interessen, Meinungen und Vorlieben muss ich mir also selbst verbieten,
dann würde es mit dem wissenschaftlichen Arbeiten klappen.
Diese Art von wissenschaftlicher Arbeit ähnelt
eher einer kombinatorischen Suche wie beim Puzzeln.
Input ist ein Problem, Output ist eine Lösung.
Computer können diese Art von Arbeit gut unterstützen,
vielleicht eines Tages sogar selbstständig übernehmen?

ad (2): Zur zweiten Stufe kommt man durch die Wiederentdeckung des Subjekthaften.
Das eigene Wollen, meine Interessen, Meinungen und Vorlieben
sind Quelle und Motor des Prozesses.
Ich bleibe authentisch und muss nichts unterdrücken.
Wissenschaftliches Arbeiten wird hier zu einer ganz persönlichen Angelegenheit,
die man mit Leidenschaft verfolgt und die sich an der gefundenen Realität reibt
ohne etwas zu unterdrücken oder zu ignorieren,
weder im Objektiven noch im Subjektiven.

Das Weltbild der zweiten Stufe sieht das Subjekt nicht mehr
als „Störenfried des Objektiven“ oder als „Fehler im wissenschaftlichen System„,
sondern ganz im Gegenteil als willkommene Quelle und Motor.

Erste und zweite Stufe hören sich wie Gegensätze an,
sind es aber nicht, denn es gilt Beides:
In einer wiss. Arbeit sollte man objektive Erkenntnisse erzielen und nachvollziehbar dokumentieren.
Es gibt objektive Kriterien, die zu beachten sind.
Und gleichzeitig gibt es den Prozess des wiss. Arbeitens,
in dem das Subjektive beachtet und reflektiert werden
und nicht aus dem Dunkeln heraus unbewusst steuern sollte.

Eine Parallele liegt darin, dass die beiden Philosophien Ludwig Wittgensteins
zunächst als Gegensatz begriffen wurden und erst in neueren Auslegungen
die Kontinuität und Weiterentwicklung (also der Reifeprozess) verstanden wird,
vgl. Ludwig Wittgenstein.

Mit der zweiten Stufe soll nicht subjektiver Willkür Tür und Tor geöffnet werden.
Der Maßstab ist und bleibt die objektive Realität,
die mit der je eigenen subjektiven Erkenntnismöglichkeit erschlossen wird.
Das Subjektive darf jedoch nicht als Konstante vorgestellt werden,
sondern durchläuft selbst einen Reifeprozess,
mit dem die Erkenntnismöglichkeiten wachsen.

Am besten gehen beide Prozesse Hand in Hand:
Auf der einen Seite die Gewinnung objektiver Erkenntnisse,
auf der anderen Seite der Prozess der Subjektreifung.

Subjekte können nicht „erzogen“ werden, sie können nur reifen.
So etwas wie eine „Erziehungswissenschaft“ gibt es nicht für Subjekte,
obwohl sich ein Teilbereich der Bildungswissenschaften so nennt.

Für die Reifung kann man förderliche oder hinderliche Rahmenbedingungen schaffen.
Das Gesellschaftssystem gibt solche Rahmenbedingungen vor.
Deren Wirkung, nicht deren gute Absicht, ist immer wieder wissenschaftlich zu hinterfragen.

Der technische Anteil dieses Rahmens wird immer größer.
Informatik sollte zu einer Wissenschaft der Systemgestaltung reifen,
anstatt nur das technische Rüstzeug dazu zu liefern.

NSA, Google und Facebook wissen heute schon mehr über jeden Menschen
als die eigenen Freunde, Eltern und Dozenten.
Wer oder was erzieht eigentlich unsere Kinder wirklich?

Bereits jetzt ist das Google-Suchergebnis kein objektives mehr,
sondern angepasst an das fragende Subjekt, das auf diese Weise
in der Google-Filter-Bubble gefangen gehalten wird,
vgl. meinen Blog-Eintrag „Filter Bubble“.
Facebook experimentierte bereits „erfolgreich“ mit Manipulationstechniken,
siehe „Datenschutz-Aktivisten gehen gegen Facebook-Experiment vor„,
Facebook verteidigt umstrittenes Psycho-Experiment„,
Facebooks Psycho-Experiment wurde ’schlecht kommuniziert‘„.
Individuelle ebenso wie nationale oder gar globale Steuerung
und Manipulation sind damit leicht und unbemerkt möglich.
Das ist keine technische Frage von Datenschutz mehr.
Der Gesellschaft ist offensichtlich die Kontrolle entglitten:
Obwohl die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten ständig wachsen,
ergreift die Gesellschaft keine Schutzmaßnahmen.
Die Gesellschaft hat sich selbst als Subjekt vergessen.
Statt eines reifen, aufgeklärten Umgangs mit diesem Problem
erleben wir ein Wiedererstarken der Subjektextremisten,
die das Problem mit Gewalt zu lösen versuchen.

Die Subjektvergessenheit oder gar -feindlichkeit ist nicht nur ein individuelles Problem,
sondern auch ein gesellschaftliches.
Eine wissenschaftsgläubige Gesellschaft der Stufe (1) bleibt subjektfeindlich,
solange sie das Subjekt als „Störenfried des Objektiven
oder als „Fehler im wissenschaftlichen System“ betrachtet.
Eine Weiterentwicklung zu Stufe (2) wird zu einer dringlichen gesellschaftlichen Aufgabe.
Dazu muss auch das Bildungssystem etwas beitragen.

Wittgenstein hat seine erste Philosophie 1918 geschrieben
im Glauben, dass dies das letzte Wort der Philosophie sei.
Alles was man sagen könne, sei nun gesagt.
Er brauchte immerhin Jahrzehnte, um zu reifen und
auf der neuen Reifestufe begreifen zu können, dass etwas fehlt.
Daher brauchen wir uns nicht zu schämen,
wenn auch „wir“ (individuell oder als Gesellschaft)
etwas Zeit von Stufe (1) zur Stufe (2) benötigen.

Literaturhinweis:
[Knauer 2006] Sabine Knauer: „Zur (Wieder-)Entdeckung der Lehrkräfte als Subjekte – Ein subjektiv-wissenschaftliches Plädoyer für einen Tabubruch“

http://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-531-90221-0_14.pdf

%0 Book Section
%D 2006
%@ 978-3-531-14857-1
%B Schulentwicklung
%E Rihm, Thomas
%R 10.1007/978-3-531-90221-0_14
%T Zur (Wieder-)Entdeckung der Lehrkräfte als Subjekte – Ein subjektiv-wissenschaftliches Plädoyer für einen Tabubruch
%U http://dx.doi.org/10.1007/978-3-531-90221-0_14
%I VS Verlag für Sozialwissenschaften
%8 2006-01-01
%A Knauer, Sabine
%P 241-256
%G German

[Heesen 2014] Bernd Heesen: „Wissenschaftliches Arbeiten –
Methodenwissen für das Bachelor-, Master- und Promotionsstudium“
http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-43347-8
ISBN: 978-3-662-43346-1 (Print) 978-3-662-43347-8 (Online)

[Kabalak 2007] Alihan Kabalak, Birger P. Priddat: „Wieviel Subjekt braucht die Theorie? Ökonomie/Soziologie/Philosophie“, Springer, 2007, http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-90413-9.

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