Die zwei Arten des Verstehens

Akademische Lernprozesse sind auf Verstehen ausgerichtet. Wissen und Kompetenzen sollen nicht einfach kopiert werden, sondern es soll sich ein tieferes Verständnis aufbauen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Tiefenstrukturen. Was sind diese Tiefenstrukturen und wie entstehen sie?

Es gibt zwei Arten des Verstehens:

  • 1. Aufbauendes Verstehen: Man knüpft an Altes an und baut sein Verständnis darauf auf. Abstraktes wird durch Konkretes verdeutlicht. Mathe wird durch Zahlen verstanden. Anwendungsorientierte Lehre bringt immer wieder Beispiele aus bekannten Anwendungen.
  • 2. Innovatives Verstehen: Man lässt sich völlig unvoreingenommen und unbelastet auf das Neue ein, macht mit, interagiert, sammelt völlig neue Erfahrungen und gewinnt daraus ein tieferes Verständnis.

Im ersten Fall knüpft man an vorhandene Tiefenstrukturen an und baut diese weiter aus. Im zweiten Fall entsteht eine neue Tiefenstruktur unabhängig von der alten.

Der Umgang mit der kognitive Substanz ist in beiden Fällen völlig unterschiedlich. Im ersten Fall muss man das Neue immer mit dem alten vergleichen, abgleichen und in Beziehung setzen. Das alte Weltbild wird ergänzt und verfeinert. Das alte Selbstbild bekommt zusätzliche Facetten.

Im zweiten Fall lässt man jede vorhandene Tiefenstruktur weg und beschränkt sich auf die kognitive Substanz in ihrer ursprünglichen Klarheit an sich, völlig leer und unstrukturiert. Altes Wissen und Kompetenzen spielen keine Rolle. Weltbild und Selbstbild bleiben außen vor. Freiheit von Vorurteilen ist der Gewinn.

Bei Kleinkindern kann man diese Unterschiedlichkeit wie folgt beobachten:

  • 1. Die primäre Sensorik liegt im Mund. Daher nehmen Kleinkinder alles in den Mund, tasten, schmecken, riechen. Die Welt der frühkindlichen Erfahrungen ist die Menge der in den Mund genommenen Objekte. Gibt man einem solchen Kleinkind nun Legobausteine, so will es diese zunächst in sein bekanntes Schema einordnen und nimmt diese ebenfalls in den Mund.
  • 2. Irgendwann ist für das Kleinkind die olfaktorische, gustatorische und kinästhetische Beurteilung nicht mehr wichtig. Es fängt an, mit den Legobausteinen Personen, Häuser, Brücken und Burgen zu bauen. Eine neue Welt wird erschlossen, die mit der alten nichts zu tun hat. Gleichzeitig ist die alte Welt immer noch da. Sie spielt bloß keine Rolle mehr.

Eine alte Geschichte handelt von einem Schüler, der sich mithilfe eines Lehrers auf ein völlig neues Gebiet wagen will. Lehrer und Schüler treffen sich zu einem Vorgespräch bei einer Tasse Tee. Der Lehrer merkt schnell, dass der Schüler im Denkmodus des aufbauenden Verstehens gefangen ist und sich auf das Neue nicht wirklich vorurteilsfrei einlassen will. Nun schenkt der Lehrer dem Schüler eine Tasse Tee ein: Die Tasse läuft voll. Der Lehrer hört absichtlich nicht auf zu gießen. Der Schüler ist entsetzt: „Der Tee läuft über.“ Darauf der Lehrer: „Man muss die Tasse zuerst leeren, bevor wieder etwas hinein passt. Wie willst Du Dich auf das Neue einlassen, wenn Du mit alten Konzepten noch gefüllt bist?“

Im Laufe eines Lebens gibt es immer wieder Innovationssprünge im eigenen Denken. Dabei lernt man, die Welt mit anderen Augen zu sehen, andere Aspekte wahrzunehmen und die eigene kognitive Substanz anders als bisher zu verwenden. Kann ich mich auf das Abenteuer einer neuen kognitiven Welt einlassen? Oder muss ich mich immer wieder in der alten Welt mit alten Erklärungsmustern vergewissern?

Gesellschaftlich geschieht dies ebenfalls. Die Innovationssprünge kommen immer häufiger und führen zu immer grundlegenderen gesellschaftlichen Veränderungen. Diese mit den altbekannten Erklärungsmustern verstehen zu wollen, wird der Natur der Innovation nicht gerecht. Können wir uns auf das Abenteuer einer neuen Gesellschaft einlassen?

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