Dekonstruktion als didaktische Methode

Dieser Blog heißt „klarlernen“.
Es geht um Lernen, um zu mehr Klarheit zu kommen.
Dazu gehört sowohl Konstruktion als auch Dekonstruktion.

In der Didaktik der Physik gibt es die bewährte Methode
der Dekonstruktion falscher Vorstellungen über physikalische Phänomene.
Die falschen Vorstellungen schleichen sich im Alltag nebenbei ein.
Ohne die kundige Führung des Didaktikers könnten die fehlerhaften Weltmodelle ein Leben lang bestehen bleiben.
Es braucht Vertrauen, dem Physiklehrer mehr zu glauben als sich selbst.
Es braucht Offenheit und Selbstkritikfähigkeit,
um die eigenen Vorstellungen auf den Tisch zu legen,
offen anzuschauen und zu korrigieren oder gar ganz zu beseitigen.
Die klassische Methode der Physik zur Dekonstruktion falscher Annahmen
ist das Experiment. Wenn jemand glaubt, dass ein schwerer Stein schneller zu Boden falle als ein leichter, so kann man es einfach ausprobieren.
Weitere Beispiele siehe Wikipedia.

Diese Methode wurde bereits auf die Mathematik übertragen.
Wenn ein Student glaubt, die Ableitung der Funktion x * sin(x) sei 1 * cos(x),
dann hat er offenbar die Produktregel der Differentialrechnung noch nicht verstanden.
Zur Dekonstruktion seiner Vermutung, man müsse nur die einzelnen Faktoren getrennt ableiten und die Ergebnisse miteinander multiplizieren,
rechnet man ein Gegenbeispiel durch. Der Student weiß z.B., dass die Ableitung von x2 genau 2 * x ist. Die einzelnen Faktoren von x * x haben aber jeweils die Ableitung 1. Daher kann der Student ohne Hilfe erkennen, dass seine Vermutung nicht stimmen kann. Die Vermutung, aufgrund derer der Fehler entstanden war, wurde dekonstruiert.

In dem digiFellow-Projekt „Lernvideo 2.0: All in one for all – Binnendifferenzierende Lernvideos durch Nutzung von H5P und interaktiver Gestaltungstechnologie“ von Prof. Dr. Mike Altieri wurde an der Hochschule Ruhr West dieses Prinzip systematisch angewendet, so dass die häufigsten Fehler beim Lösen von Mathe-Aufgaben gezielt zu genau dem Lernvideo führen, das die passende Dekonstruktion der zugrunde liegenden falschen Vermutung zum Ziel hat. Was für ein gigantischer Aufwand!

Dekonstruktion ist in der Didaktik angekommen. Ohne gründliche Dekonstruktion verbleibt im Gehirn eine Mischung von richtigen und falschen Regeln.

Der Vorteil von E-Learning liegt hier auf der Hand:
Der Dekonstruktion durch eine Maschine wird niemals eine böse Absicht unterstellt.
Bei einer Maschine wird immer Neutralität angenommen.
Die vielen seelischen Verletzungen in der Schule finden hier keine Resonanz.

Dekonstruktion ist im E-Learning angekommen.

Konstruktivismus wird allzu leicht mit Reduktionismus verwechselt:
Alles muss immer konstruktiv sein.
Dekonstruktion ist verboten.
Für die Dekonstruktion gibt es Sprechverbote.

Positives Denken und Handeln läuft ebenso Gefahr,
das Heilsame der Dekonstruktion auszuklammern.

Sigmund Freud kommt das epochale Verdienst zu,
die Menschheit auf Schattenarbeit aufmerksam gemacht zu haben:
Die Denkvorgänge in uns sind weit mehr, als wir uns bewusst machen.
Das Unbewusste ist das Ausgeklammerte,
was wir nicht mehr oder noch nie angeschaut haben.
Auch wenn es so banale Dinge sind wie unsere Erklärungsmodelle für physikalische Phänomene,
so entfalten sie doch unkontrolliert ihre Wirkung und sind dann gar nicht mehr banal.

Je älter unsere Vorurteile und fehlerhaften Selbst- und Welt-Modelle sind,
umso hartnäckiger halten wir sie am Leben.
Ein Therapeut mit 30 Jahren Berufserfahrung,
der auf einer Schulung erkennt, dass er 30 Jahre lang in seiner Praxis etwas falsch gemacht hat, weil er sich etwas falsch vorgestellt hat,
fühlt sich am Boden zerstört, denn „es war ja alles falsch“.
Daraus wird bei weniger aufrichtigen Menschen der Umkehrschluss
„Das darf nicht alles umsonst gewesen sein“ und sie halten umso hartnäckiger am Falschen fest.

Die Stanford-Professorin Carol Dweck hat mit ihren Untersuchungen heraus bekommen, dass das Festhalten an einem starren Selbst- und Welt-Modell das größte Lernhindernis sei und die Lern- und Leistungsfähigkeit deutlich reduziert. Wer sich der Dekonstruktion seiner Vorurteile und fehlerhaften Selbst- und Welt-Modelle verschließt, tut sich selbst damit keinen Gefallen. Das gute Gefühl der Bewahrung seiner Identität wird teuer bezahlt.

Jacques Derrida hat den Dekonstruktivismus in der französischen Philosophie begründet basierend auf Martin Heidegger, der bereits von einer methodischen Verschränkung von Konstruktion und Destruktion gesprochen hat:

  1. „Erfassung des Seienden auf das Verstehen von dessen Sein (phänomenologische Reduktion)“
  2. „Entwerfen des vorgegebenen Seienden auf sein Sein und dessen Strukturen (phänomenologische Konstruktion)“
  3. „kritischer Abbau überkommener Begriffe (Destruktion)“[10]

Diese methodische Verschränkung wurde später von der Didaktik aufgegriffen und zu einer didaktischen Methode geformt, siehe „Perspektiven der Didaktik„.

Georg Kreisler hat mit seinem bekannten schwarzen Humor noch bitter-böse vom „Kritiker“ gesungen und „Gehen wir Tauben vergiften im Park„, um das Aggressive, das Zerstörerische, das Böse im Kritiker dazustellen. Es ist ein schmaler Grat zwischen „zerstören“ und „zerstörerisch“.

Im Band „Streit um Asterix“ ist Tullius Destructivus ein Römer, der so nebenbei mit kleinen Sticheleien alles zerstören kann, was ihm in den Weg kommt. Im Destruktiven steckt eine große Macht, die man leicht missbrauchen kann. Es ist dieser Macht-Missbrauch, der uns Angst macht oder zumindest vorsichtig. Der Destruktive steht immer auch im Verdacht, böse zu sein. Ist deswegen der Physik-Lehrer auch böse? Ein Physik-Lehrer braucht Vertrauen, um mit der didaktischen Methode der Dekonstruktion didaktisch wirksam sein zu können.

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