Von dummen Maschinen zu dummen Gehirnen

Das Buch „Gödel, Escher, Bach – ein Endlos Geflochtenes Band“ wurde 1979 von Douglas R. Hofstadter geschrieben und gibt die damalige Stimmung wieder: Man glaubte noch voll an die Möglichkeit einer künstlichen Intelligenz (KI). Intelligenz sei auch mechanischen Denkapparaten möglich. Der Weg dorthin gehe über „seltsame Schleifen“, Selbstbezüglichkeiten, wie sie von Bach in der Musik, Escher in Bildern und von Gödel in der Mathematik erkannt und dargestellt wurden. Es gebe also einen Münchhausen-Trick, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen und aus Materie echte Intelligenz erschaffen zu können. Wichtig war Hofstadter die Plausibilität, dass menschliche Denkvorgänge auf Maschinen abbildbar sind.

Heute, 32 Jahre später, ist Ernüchterung der Euphorie gewichen. KI ist ein normales Fach der Informatik geworden, in dem auch bloß Algorithmen gelehrt werden. KI-Algorithmen sind zwar ein wenig anders, aber eben doch nur Algorithmen.

Die andere Seite, das menschliche Gehirn, wird seitdem auch immer intensiver untersucht, und zwar in den Neurowissenschaften. Das Gehirn ist im Prinzip ein neuronales Netz. Sein Unterschied zu Computer-Gehirnen ist die Fehlerhaftigkeit und Unzuverlässigkeit, so dass Ergebnisse nicht zuverlässig reproduzierbar sind. Die Leistungsfähigkeit bei der Ein- und Ausgabe, in der Kombinatorik und beim Massen-Kopieren ist im Vergleich zu Computern um Größenordnungen schlechter. Auf diese Unterschiede ist Hofstadter in seinem Buch nicht eingegangen. Das Gehirn entpuppt sich als schlechter Computer. Es ist nicht nur langsamer und unzuverlässiger, sondern auch gestörter, da es Störsender und Input-Signale wie Audio, Video, Gefühle oder Störgedanken während der Denkvorgänge nicht zuverlässig abschalten kann.

Ebenso ist der Computer dem Menschen auf dem Gebiet der zuverlässigen Massenspeicherung haushoch überlegen. Daher ist es kein Wunder, dass mittlerweile Computer Weltmeister wurden in verschiedenen Disziplinen wie Schach oder Quiz (Jeopardy – Amerikas liebste Quiz Show), selbst wenn man ihre Kommunikation unterbindet: In Jeopardy wurde das Internet abgeschaltet.

Andererseits ist der Computer für bestimmte Fragestellung völlig unbrauchbar, z.B. „Was ist wichtig?“, „Was ist der Sinn des Lebens?“, „Was ist die Realität?“, „Was ist der momentane Kontext?“, „Was ist der kritische Punkt?“ oder „Was ist die jetzige Problemstellung?“. Douglas Adams bringt es in seinem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ satirisch auf den Punkt, indem er einen Computer jahrhundertelang über die Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“ rechnen lässt und zum Schluss die Antwort „42“ ausgeben lässt. Was sonst hätte ein Computer dazu sagen können?

Unsere Bildungsideale stammen heute noch aus der Zeit vor den Computern. Daher wurden von der Gesellschaft viele Menschen als zuverlässige Rechner, Denker und Kommunikatoren benötigt, quasi als Computer- und Internet-Ersatz. In unserer Zeit ändert sich der Bedarf massiv. Die Bildungsideale haben sich jedoch nicht merklich geändert. Daraus ergibt sich eine massive Fehlproduktion am Bedarf vorbei.

Hofstadter beschreibt in „Gödel, Escher, Bach“ die Church-Turing-These in der Hardy-Version (S. 603, deutsche Ausgabe) wie folgt: „Im Grunde sind alle Mathematiker-Gehirne isomorph.“ Die Bildungsindustrie sorgt für die Reproduktion isomorpher Gehirne, wie Hofstadter es nennt, d.h. die Gehirne der Schüler werden durch Unterricht strukturiert und in der Grundstruktur denen der Lehrer äquivalent angepasst, zumindest was das Fachliche anbelangt. Isomorphe Strukturen werden am effizientesten durch axiomatisierte Systeme transferiert, d.h. man überträgt die Axiome und der Rest ergibt sich durch logische Schlussfolgerung. Gute Noten gibt es für fehlerfreie Reproduktion. Die Isomorphie wird also unter existenzieller Bedrohung erzwungen. Der Schüler hat nicht wirklich freie Wahl.

Früher war Isomorphie der Garant für das Weiterbestehen einer Fachdisziplin in der nächsten Generation. Heute wird es immer wichtiger, auch die Schattenseite dieses Reproduktionsvorgangs zu sehen: Isomorphie kann auch schädlich sein, kann auch der Gesellschaft schaden, nämlich dann, wenn ein „Weiter so …“ als Entwicklungsoption nicht mehr in Frage kommt, wenn Innovation und Neustrukturierung wichtiger werden als Reproduktion alter Strukturen.

Logische Schlussfolgerungen über Tausende von Seiten hinweg zu überprüfen ist für Computer kein Problem, für Menschen schon. Das Absolute in der Form als perfekter Denker ist durch Computer besser vertreten als durch menschliche Gehirne. Das Gehirn ist ein schlechter mechanischer Denker, voller Fehler, Unzuverlässigkeiten und Begrenztheiten. Kurz: Das Gehirn ist ein schlechter Computer. Angesichts der Perfektion mechanischer Denkvorgänge in Computern müssen Menschen neidlos anerkennen, dass Gehirne fehlerhaft, unzuverlässig, vielfach begrenzt und durch andauernde Signalverarbeitung vielfach gestört sind.

Fehlerfreie mechanische Denkvorgänge sind eine Form von Bewusstsein, allerdings keine besonders menschliche, keine besonders gehirngerechte, sondern eher maschinengerechte. Wahre Intelligenz sieht anders aus. In Zukunft wird es wichtiger, mechanische Denkvorgänge an Maschinen delegieren zu können und seinen Kopf frei zu halten für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens und des Berufs. Höhere Formen von Bewusstsein, der Sinn für Wichtiges und Schönes, Innovation, Intuition, Kreativität und Freiheit gehen über die Kombinatorik mechanischer Denkvorgänge hinaus. Aber kann man diese auch getrost den Maschinen überlassen?

Dazu zwei Geschichten. Erste Geschichte: Ein Professor für Maschinenbau rechnet mit den Studierenden zusammen in der Vorlesung ein Projekt an der Tafel durch, bis er schließlich bei dem Term „0,01 * 100“ landet. Er dreht sich um zu seinen Studierenden – und ihn trifft der Schock seines Lebens: Die Mehrheit der Studierenden zückt ihren Taschenrechner. „Moment mal“, sagt der Professor, „Hier stimmt etwas nicht!“. Was stimmt hier nicht? Was ist passiert?

In der Schule sind Taschenrechner im Namen des Fortschritts erlaubt. Im Umgang mit den Taschenrechnern haben die Schüler gelernt, wie fehlerhaft das eigene Gehirn ist. Da jeder Fehler in der Schule nicht mit intelligenter Reflexion, sondern mit einer schlechten Note geahndet wird, hat sich der Rückgriff auf den Taschenrechner zur unfehlbaren Sicherheit als Erfolgsstrategie entwickelt. Man kann auch umgekehrt sagen: Die Schüler sind bezüglich der Zuverlässigkeit ihres eigenen Gehirns total verunsichert. Dem Computer wird mehr vertraut als dem eigenen Denken. Dieses Ergebnis ist eine Katastrophe! Wenn die Gesellschaft hier nicht gegensteuert, werden wir aus dem Zeitalter der dummen Maschinen in das Zeitalter dummer Gehirne wechseln. Das ist auch eine Art Paradigmenwechsel.

Offenbar gibt es einen erheblichen Schulungsbedarf im Miteinander von Mensch und Computer. Solange Fehlerfreiheit und Perfektion Bildungsziele sind, wird das Unterlegenheitsgefühl gegenüber Computern bleiben. Sobald wirkliche Intelligenz der Maßstab wird, hört der Spuk auf. Das ist die Herausforderung für unser Bildungssystem.

Zweite Geschichte: In einer Mathe-Klausur wird ein Beweis, der auch im Unterricht schon vorkam, als eine von acht Aufgaben verlangt. Ein Student, der den Beweis vergessen hatte, macht sich trotzdem an die Aufgabe und kommt tatsächlich auf Beweisideen, die er kreativ neu erfindet. Leider dauert dieser kreative Prozess etwas länger und er kommt nicht mehr zu den anderen Aufgaben. Trotzdem hinterlässt das Gelingen des eigenen Beweises ein wenig Stolz und das Gefühl, etwas wirklich verstanden zu haben.

Der Professor sieht nur das äußere Ergebnis, dass nur eine von 8 Aufgaben gelöst wurde, und gibt dem Studenten die Note 5. Andere Studierende, die den Beweis auswendig gelernt hatten, bekommen bessere Noten. Sind sie deswegen leistungsfähiger? Im Auswendiglernen vielleicht, im kreativen Konstruieren eigener Beweise vielleicht weniger.

An der zweiten Geschichte können wir klar die systemischen Grenzen erkennen. Eigentlich müsste auch die subjektive Seite per Innenschau und nicht nur das objektive Ergebnis bewertet werden. Das System betreibt eine Selektion zu Lasten der Kreativen und zum Vorteil der Auswendiglerner, der Kopierer. Das ist in der Vergangenheit gut gegangen, weil Merk- und Speicherfähigkeit auch wichtige Leistungskriterien waren. In dem Maße, in dem Computer diese Leistungen übernehmen und darin die Menschen überflügeln werden, ist die genannte Selektion eine gesellschaftliche Fehlsteuerung.

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