Bilanz 15 Jahre Bologna-Reform

Die Bologna-Reform war für 10 Jahre geplant und nun schon über 15 Jahre alt. Mittlerweile ist sie auch selbst Gegenstand empirischer Untersuchungen und wissenschaftlicher Reflexion, so z.B. in der Dissertation [Bloch 2007] von Roland Bloch, veröffentlicht als Buch [Bloch 2009] mit dem Titel „Flexible Studierende? Studienreform und studentische Praxis“.

Der Wissenschaftsbetrieb selbst war bisher immer auf wissenschaftliche Reflexion und Erkenntnisgewinn ausgerichtet. Das war die große Überschrift über alle Curricula.

Durch die Bologna-Reform haben sich „Hidden Curricula“ in den akademischen Lehrbetrieb eingeschlichen. Deren große Überschrift ist „Anpassung und Optimierung“ statt „Reflexion und Erkenntnisgewinn“. Das ist die Wirkung, die Roland Bloch aufgrund zahlreicher Interviews beobachten konnte und feststellen musste.

Die Bologna-Reform hat einen deutlichen Shift bewirkt in Richtung Ökonomisierung (von sich selbst, seinem Studium, der Lernziele, der Berufsziele), Optimierung (von sich selbst, seiner Lerneffizienz, seinen Karrierechancen, seinen Verdienstmöglichkeiten, Ausnutzung des Systems für den eigenen Vorteil) und Anpassung an die vielen normativen Anforderungen und Regeln des kleinteilig organisierten Lehrbetriebs, an das Post-Bologna-System Hochschule.

Im Bologna-Prozess bedeutet Kompetenzorientierung nicht zuerst die Orientierung auf akademische Kompetenzen. Gemeint sind primär die beruflichen Kompetenzen. Der Nutzen, die Employability, wird immer gleich mitgedacht: „Warum muss ich das lernen? Was bringt mir das für meine spätere Arbeit?“ sind die konsequenten Fragen der durch-optimierten Studierenden.

Die Optimierung macht auch vor dem Lernverhalten nicht Halt. Das Kosten-/Nutzen-Verhältnis wird genau beachtet. So vergleichen die Studierenden, wie viele Wochen sie für eine Klausur „lernen“ mussten, um sie zu bestehen. Fächer, in denen das Kosten-/Nutzen-Verhältnis besser ist, werden bevorzugt, unabhängig vom Inhalt. Das Prinzip gilt auch für die Wahl von Studiengängen und Hochschulen. Predigten der Didaktiker gegen diese Art von „Bulimie-Lernen“ haben keine Chance gegen die Sogwirkung der Systemzwänge: Wenn das System falsche Anreize setzt, haben gut gemeinte Appelle keine Chance. Die Folge ist: „Exploratives Studieren“ bleibt auf der Strecke. Studierende werden zu „optimiert Lernenden“.

Die Selbstoptimierungsfähigkeit wird als Selbstkompetenz verstanden, die ein Teil der Persönlichkeits- und Führungskompetenzen ausmache. Roland Bloch berichtet von privaten Elite-Hochschulen, in denen dieses Prinzip noch einmal eine Steigerung erfährt. Inhalte werden zur Nebensache, da die Absolventen flexibel und überall einsatzfähig sein sollen. In den Curricula liest man daher vermehrt den Rückzug auf die Methodik. In der Studierendenpraxis werden wissenschaftliche Reflexion und Erkenntnisgewinn zu Nebenprodukten.

Aus dem akademischen Bildungsziel (A) „Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit“ wurde (B) „Berufsbefähigung auf akademischem Niveau“. Damit werden Hochschulen mehr dem größeren gesellschaftlichen Bedarf nach (B) gerecht und sorgen immer noch genug für den Selbsterhalt in (A).

Wissenschaft war sich früher selbst genug: Eines der Humboldtschen Bildungsideale ist „Einsamkeit“ im Sinne von Unabhängigkeit und Freiheit. Humboldt forderte das Gegenteil von Berufsorientierung und Employability.

Nun sagt Gesellschaft zur Wissenschaft: „Du hast einen gesellschaftlichen Auftrag. Diene diesem Auftrag. So kostengünstig wie möglich. Ordne Dich unter.“ Gesellschaft stößt Wissenschaft vom Thron höchster Ideale und setzt Optimierung und Anpassung an ihre Stelle. Die Konsequenzen beginnen wir erst zu erfahren, zuerst bei unseren „flexiblen“ Studierenden in ihrer „studentischen Praxis“.

Georg (Friedrich) Simet führt den Unterschied in seinem Artikel „The Concept of Study as Work in the Bologna Reform Process“ zurück auf Plato und Aristoteles und die grundsätzliche Unterscheidung von vita activa und vita contemplativa. Der Mensch beginnt seinen Weg unreif und die vita contemplativa in der Bildungsphase lässt ihn reifen. Als reifer Mensch beginnt er dann die Berufsphase als vita activa. Wenn er gleich mit der vita activa begonnen hätte, optimiert er zwar früher seine Handlungskompetenzen, aber ohne Reife. Ein solches Leben ist angepasster und optimierter, aber unreifer.

Sicher ist diese Betrachtung sehr dualistisch. Warum sollte man vita activa und vita contemplativa so strikt trennen? Integrationsmodelle sind durchaus möglich. Z.B. gibt es auch kontemplative Arbeitsformen. Aber die Einseitigkeit der Nur-Aktivität ist die Ursache vieler Übel unseres Bildungssystems.

Mittlerweile ist seit des Erscheinens des Buches 2009 einige Zeit vergangen. Der Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Prof. Dr. Holger Burckhart, Präsident der Uni Siegen, hat seine Kollegen zu einer Bilanz von 15 Jahren Bologna aufgefordert und eine AG „Europäische Studienreform“ gegründet. Unter hrk-nexus findet man das Ergebnis. Die Empfehlung „Europäische Studienreform“ der HRK-Mitgliederversammlung ist zu finden unter nexus-Link. Auf Ingenieur.de findet man eine kurze Zusammenfassung. Danach gibt es positive und negative Bewertungen:

  • Studierende werden viel ernster genommen
  • Das Hauptziel „Hochschulraum Europa“ wurde jedoch nicht erreicht.
  • Übergreifenden Bildungsideen wurden aus dem Auge verloren: Mobilität, das selbstverantwortliche Lernen, den Freiraum zum Denken und das Reflektieren
  • Studierende werden viel früher an die Praxis herangeführt => größere Marktanpassung => weniger kritische Distanz, was Burckhart überspitzt in der Formulierung „Das „Abrichten“ auf einen Arbeitsplatz kann nicht Ziel des Studiums sein. Wir wollen keine Roboter produzieren.“ Besonders die Ingenieurstudiengänge haben hier Nachholbedarf.
  • „Wir müssen zurück zur akademischen Persönlichkeitsbildung“, siehe DLF-Interview
  • Bologna darf nicht als Sparmodell instrumentalisiert werden

Einiges davon passt zu der Bloch-These Optimierung und Anpassung“ statt „Reflexion und Erkenntnisgewinn“. Das war aber zuerst ein Gesellschaftstrend und wurde erst durch Bologna zum Hochschultrend. Man kann allgemein feststellen, dass sich die Gesellschaft schneller entwickelt als die Hochschulen. Der Veränderungsdruck in Hochschulen kommt von außen, nicht von innen durch Reflexion und Erkenntnisgewinn.

Literaturhinweis: Diss [Bloch 2007] => Buch [Bloch 2009]

Verfasser: Bloch, Roland
Titel: Flexible Studierende?
Zusatz zum Titel: Studienreform und studentische Praxis
Verfasserangabe: Roland Bloch
Verlagsort: Leipzig
Verlag: Akad. Verl.-Anst.
ISBN: 978-3-931982-66-9
Erscheinungsjahr: 2009
Umfang: 336 S. : graph. Darst.
Hochschulschriftenvermerk: Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 2007
Notation: AKAR
Schlagwort: Deutschland / Hochschulreform / Bologna-Prozess
Link: http://digitool.hbz-nrw.de:1801/webclient/DeliveryManager?pid=3260397&custom_att_2=simple_viewer
Linkinfo: Link-Text: Flexible Studierende?; Interna: Inhaltsverzeichnis
Signatur: 11 = AKAR1010
Verbundkatalog: HT015862957

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