Epistemologische Evolution

Evolution? Da fällt einem Charles Darwin ein.
Evolution wird in der Schule im Biologieunterricht erwähnt:
Evolution fand über Jahrmillionen statt
und das Ergebnis sehen wir heute, so das Schulwissen.
Heutzutage erscheinen in diesem Schulweltbild aktuelle Evolutionsphanömene höchstens als Randerscheinung, etwa auf den Galapagos-Inseln.
Im Allgemeinen gilt Evolution heute als abgeschlossen.

Das ist also die in der Schule vermittelte Hierarchie:

Wissenschaft
        -> Biologie
                -> Evolution

Dabei kann man den Evolutionsbegriff auch viel weiter fassen:

  1. biologische Evolution
  2. epistemologische Evolution (Erkenntniswege und -methoden)
  3. technische Evolution (Werkzeuge)
  4. Wirtschaftsformevolution
  5. Gesellschaftsevolution
  6. Sozio-technische Koevolution

Die zweite Stufe, die epistemologische Evolution, hat verschiedene Erkenntniswege und -methoden ausprobiert, verworfen und weiterentwickelt. Eine bewährte Erkenntnismethode ist dabei die wissenschaftliche.

Die genannte Herleitung dreht die Hierarchie herum: Evolution wird zum Oberbegriff und Wissenschaft ist nur noch einer von vielen Unterbegriffen:

Evolution
        -> epistemologische Evolution
                -> Wissenschaft

Heute hören wir oft: „Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. Das Starke wird sich weiterentwickeln. Das Schwache wird verschwinden.“ Dies sind Merkmale eines Evolutionsprozesses, die hier beschrieben werden. Wir sind offenbar mitten in einem Evolutionsprozess.

Wissenschaft dient dem Erkenntnisgewinn. Die Frage ist nur: Die Erkenntnis von welcher Welt, von welcher Stufe der Evolution, der Stufe von gestern oder der von morgen?

Evidenzbasierte Wissenschaft heißt, dass Theorien aufgrund empirischer Erhebungen aufgestellt oder durch empirische Daten bestätigt werden. „Nicht raten, sondern messen“ heißt die Devise der evidenzbasierten Wissenschaft. Aber die Welt von morgen lässt sich nicht vermessen. Also kann solche Wissenschaft nur rückwärts gewandt sein.

Wenn der akademische Betrieb seine Studierenden auf evidenzbasierte Wissenschaft einschwört und alles andere ablehnt, reduziert er deren Handlungs- und Wirkungsradius. Zwar gibt es in der technischen Evolution, der Wirtschaftsformevolution, der Gesellschaftsevolution und der sozio-technischen Koevolution primär keine Erkenntnisse zu gewinnen, sondern zu handeln, zu konstruieren, zu partizipieren, zu erfinden und zu gestalten, doch ist die Relevanz ungleich höher: Schließlich handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als unsere Welt, in der wir morgen leben werden.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sagte einmal: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Dabei wollen wir bei der Gestaltung von Zukunft die besten Erkenntnisse und Methoden einsetzen, die wir haben. Es kann nicht sein, dass wir mit wissenschaftlicher Akribie unsere Vergangenheit aufarbeiten und uns bei der Gestaltung von Zukunft im Blindflug befinden.

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