In seinem Buch „Gemeinsam sind wir blöd“ beschreibt Fritz Simon, Professor für Führung und Organisation an der Universität Witten/Herdecke, den Effekt, dass die Gesellschaft sich irrational, unintelligent, ja gerade zu „blöd“ verhält, trotz der klugen Einsicht ihrer Mitglieder und einzelner Vertreter. Neben der viel beachteten Schwarmintelligenz gibt es auch Schwarmdummheit. Jeder kann schnell eine Vielzahl von Beispielen aufzählen wie Finanzkrise, Eurokrise, Klimawandel, Energiewende und die großen Weltprobleme wie Überbevölkerung, Wasserbewirtschaftung, Hunger, Verteilung von Ressourcen und Rechten, Frauenrechte, Ethnische Konflikte, Terrorismus, Waffenhandel und Massenvernichtungswaffen. Für jedes Problem wüsste der Einzelne Lösungen. Aber die Gesellschaft als Ganzes scheint unfähig, sich Lösungen auch nur ansatzweise zu nähern.
Gegenüber dieser „Blödheit“ der Gesellschaft fühlt sich der Einzelne machtlos und wähnt die Verantwortung bei „denen da oben„, bei den Politikern. Die fühlen sich aber nicht selten ebenso machtlos. Wer einmal im politischen Geschäft Verantwortung übernommen hat, weiß, wie schwierig es ist, Veränderungen nachhaltig herbei zu führen. Auch Verschwörungstheorien und der Verdacht der Korruption werden hartnäckig am Leben erhalten.
Warum ist die Gesellschaft als Ganzes so blöd?
In der Habermas-Luhmann-Debatte wurden zwei grundsätzlich verschiedene Theorien entwickelt:
1. Habermas sieht die Wurzel des Problems in einem Mangel an Moral. Wenn moralische Grundsätze breiter und tiefer verankert wären, dann wäre die Gesellschaft lösungsfähiger.
2. Luhmann sieht die Wurzel in einem Mangel an Selbsterkenntnis. Die Frage „Was bin ich?“ hat weder der Einzelne noch die Gesellschaft hinreichend ergründet.
Nach Habermas können wir also nichts anderes tun als predigen, predigen, predigen … bis auch der Letzte verstanden hat, wie wichtig Moral für uns alle ist. Jede Philosophie muss daher zu einer Predigt werden. Dass sich trotzdem nichts in der Welt ändert, kann dann logischerweise nur noch an der Korruptheit liegen. Das moralische Menschenbild wird zum Nährboden für Politikverdrossenheit und Verschwörungstheorien, auch wenn dies mit Sicherheit nicht in der Absicht von Habermas lag. Aber Absicht und Wirkung sind bekanntlich zweierlei.
Die Moral ist für Luhmann ein zu flacher Erklärungsversuch. Er reicht nicht für die Begründung einer Wissenschaft. Daher versucht Luhmann es in seinem eigenen Werk mit kybernetischen Denkmodellen: Mit dem Systembegriff beleuchtet Luhmann diejenige Seite des Menschen und der Gesellschaft, die systemhaft, d.h. begrenzt, reduktionistisch, mechanisiert, automatisiert und letztendlich algorithmisch in Regeln fassbar ist. „Was ist eigentlich Gesellschaft?“ fragt Luhmann und antwortet: „Gesellschaft ist ein Codex von Regeln zur Wahrnehmungsreduktion“. Das kann man auch als eine Definition von Blödheit lesen. Erst wenn wir verstehen, wie diese Blödheit zustande kommt, ohne dafür Zynismus und Verschwörungstheorien heran zu ziehen, können wir etwas daran ändern.
Die Systemorientierung hat Luhmann – völlig zu Unrecht – den Ruf eingetragen, ein anti-humanistisches Menschenbild zu haben und zu verbreiten. Da wurde Luhmann offensichtlich missverstanden: Er hat Wissenschaft gemacht und wurde als Prediger gehört. Als ob er predigen würde, der Mensch sei ein System. Dies ist aber definitiv nicht der Fall: Luhmann sagt ausdrücklich, der Mensch selbst sei kein System. Es gibt zwar die humanoiden Systeme (physisch, psychisch, gedanklich, emotional, sozial, Familiensysteme, Denksysteme, Glaubenssysteme, Ideologiesysteme, Theoriesysteme, Gewohnheitssysteme und viele andere mehr …), aber keines davon beschreibt den Menschen vollständig.
Vermutlich leiden viele Informatiker unter diesem Vorurteil. Weil sie sich mit Systemen beschäftigen, wird Anti-Humanismus zum Vorwurf. „Aufgaben und Grenzen der Systemorientierung“ könnte meine nächste Vorlesung lauten.