Zu Beginn der Bologna-Reform gab es verhärtete Fronten zwischen den Bologna-Befürwortern und den Bologna-Gegnern. Auf der Konferenz „Studium 2020“, zu der drei Unis gefördert vom BMBF, dem Stifterverband für die deutsche Wissenschaft und vom Projektträger DLR, nach Berlin in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften eingeladen hatten, wurden schon wesentlich differenziertere Argumente ausgetauscht und genauer hingeschaut: Was ist eigentlich los in der deutschen Hochschullandschaft? Nicht wie bisher: „Welche guten Absichten haben Bildungspolitiker und Hochschulen?“, sondern eher „Was sind die Wirkungen von Bologna? Was sind die Effekte? Was ist die Realität heute? Und was wird 2020 sein?“ Anstatt weitere Schleifen in ideologischen Debatten zu drehen, kommt wissenschaftliche Bestandsaufnahme („Was wissen wir wirklich?“) und Methodik mit ins Spiel. Wesentliche Merkmale der nächsten Jahre: Zunahme der Heterogenität, Diversität und Zunahme der schieren Masse an Studierenden, die an die Hochschulen strömen, für kurze Zeit und einem schroffen demographischen Abstieg. D.h. Deutschland hat jetzt für wenige Jahre die Chance, sich eine ordentliche Kräftigungsspritze für den akademischen Arbeitsmarkt zu schenken. Danach geht das mit dem eigenen Nachwuchs definitiv nicht mehr.
Mein Gesamteindruck und Fazit: Die Situation in den Jahren 2010 bis 2020 sieht nach einem grundlegenden Systemwechsel aus. Bologna war bereits ein Wechsel in Formaten und Zielsetzungen, jedoch sind einige Teile, Aspekte und Mechanismen nicht mitgezogen. Der Wandel war nur partiell, unvollständig und das hinterlässt eine Reihe von Inkonsistenzen. Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob die alten Ansätze besser waren oder ob es die neuen sind, obwohl die Reibungsverluste an den Stellen der Inkonsistenz entstehen und es nicht um alt oder neu geht.
Das schlimmste ist ein halber Systemwechsel. Man hat das eine Ufer verlassen und das andere noch nicht erreicht. Und genau in diesem Niemandsland zwischen den beiden Welten befindet sich die Hochschullandschaft in diesen Jahren.
Gleichwohl erhebt sich die Frage, wie es weiter geht. Da gibt es Arbeitgeberforderungen, gesellschaftliche Veränderungen, die rasende technische und wissenschaftliche Weiterentwicklung, globale Erfordernisse, die alle nach Änderungen schreien in einem Maße, dass jede Hochschule alt und verstaubt aussehen lassen muss.
Dem Druck, den die verschiedenen globalen gesellschaftlichen Entwicklungen auf die deutschen Hochschulen ausüben, kann das alte System nicht mehr standhalten. Dabei wird unter „dem alten System“ das Hochschulsystem verstanden, wie es heute zum größten Teil noch gängige Praxis ist: 70% besteht aus Wissensvermittlung, d.h. Inhalts- statt Kompetenzvermittlung, 50% der Lehrveranstaltungen sind Vorlesungen. Ein Detail dazu: Der Anteil der Vorlesungen hat sich angesichts der Massen, die an die Hochschulen drängen, noch erhöht. Damit halte man sich immer noch an das pastorale Lehrsystem des Mittelalters vor der Erfindung des Buchdrucks, als man von der Kanzel gepredigt und vorgelesen hatte, weil es noch keine Bücher gab. Das Ziel war die Weitergabe eines stabilen Glaubenssystems von einer Generation auf die nächste. Herrschaftsansprüche, Glaubenssystemstabilisierung und -weitergabe war das Ziel und der Weg, der uns dorthin geführt hat, wo wir heute stehen.
Bologna kommt in die Jahre. Stärken und Schwächen werden deutlicher, die als erster Haupt-Redner Prof. Dr. Dieter Euler von der Uni St. Gallen ansprach:
• Erstsemester bringen einen großen Enthusiasmus mit in ihr Studium (ebenso wie Erstklässler bei der Einschulung), ein großes Interesse an Wissenschaft, das bereits im Laufe des ersten Jahres erlöscht und einer hohlen Verwaltung des eigenen Studiums und seiner Notwendigkeiten weicht.
• Das subjektive Druck-, Stress- und Angsterleben im Studium ist gestiegen, obwohl objektiv der Stoffumfang und die Leistungsanforderungen eher gesunken sind. Ein Selektionsdruck wird an allen Ecken gespürt.
• Die wahnwitzige Beschleunigung aller Prozesse ruft nach einer Entschleunigung, die an der Uni Bielefeld gar in einer Forderung nach einer „Lesewoche“ mündete, damit die Studierenden tatsächlich auch mal Zeit finden, das zu tun, wozu das Studium eigentlich mal gedacht war: zu lesen, zu studieren im ursprünglichen Sinne.
• Die Studiengänge sind nicht kohärent genug und die Akkreditierer wohl nicht imstande, Kohärenz oder ihr Fehlen wahrzunehmen und dem entgegen zu steuern.
• Der Inflationierung von Prüfungen ist Einhalt zu gebieten. (Gleichwohl wurden keine Konzepte vorgestellt, wie dies geschehen könne.)
• Hochschuldidaktik ist noch lange keine echte Personalentwicklung, die sie eigentlich sein sollte.
• R. Barnett hat 2011 das Buch „Being a University“ geschrieben und fragt „Haben die Unis ihre Seele verloren?“. Wo ist der Geist von Humboldt geblieben? Wo ist überhaupt Geist? Unsere Hochschulen sind teilweise zu geistlosen Paukanstalten geworden. Niemand hat das gewollt. Aber es ist so gekommen.
Prof. Euler rief zu einer „Reanimation des Studierens“ auf, d.h. zu einer Reaktivierung der animierenden Elemente, z.B. forschendes Studieren, reflexive und kontemplative Elemente.
Euler ist Schweizer und wurde vom Moderator gefragt, wie er als Außenstehender das „typisch Deutsche“ in der Bologna-Reform beschreiben würde. Seine Antwort war, dass die Schweizer eher pragmatisch an die Sache heran gehen würden, während die Deutschen mehr dazu neigen, vorher ein paar ideologische Extra-Schleifen zu drehen.
Prof. Dr. Rolf Arnold berichtete von der Uni Kaiserslautern, an der 7000 Präsenz- und 4000 Fern-Studierende studieren. Seine provokanten Thesen:
– Unsere Studierenden könnten mehr wissen, wenn sie weniger lernen müssten.
– Das heutige Bildungs-Setting entstammt kirchlichen Wurzeln. Ob es für die Lernerfordernisse heute wirklich förderlich ist, ist noch nicht erforscht.
– Wie hängen Lehren und Lernen zusammen? Gar nicht!
– Lehren kann eine Behinderung von Lernprozessen sein.
– Viele Probleme der Präsenz-Uni können mit den Mitteln der Fern-Uni gelöst werden, die diese schon längst entwickelt haben. Man muss nur bereit sein, aufeinander zu zu gehen.
Prof. Dr. Rolf Schulmeister berichtete über seine Forschungsergebnisse, die er aus zahlreichen Befragungen und Statistiken gewonnen hat. Hier die wichtigsten:
• Es gibt keine Korrelation zwischen dem Zeitaufwand, den die Studierenden in ihr Studium investieren, und dem Studienerfolg, wenn man diesen mal ganz platt in Noten misst. Daher stellt Schulmeister provokant die Frage: Wozu wird dann mit ECTS-Credits gemessen, welche ja nur den Zeitaufwand spiegeln?
• Der große Gewinner ist die Selbstbestimmung. Selbstbestimmte Lerner haben den besten Studienerfolg, investieren weniger Zeit in ihr Studium insgesamt in der Summe, investieren jedoch gezielt überdurchschnittlich viel Zeit in schwierige Fächer (Mathe). Dieses strategisch-pragmatische Vorgehen ist am erfolgreichsten, wenn man Erfolg ganz platt in Noten misst.
• Einige Lernverhinderer werden durch die Lehrorganisation auch noch verstärkt.
• Die Outcome-Orientierung von Bologna ist ein Fehler. Prozessorientierung würde den Lernprozessen gerechter werden.
Schulmeister gibt folgende Empfehlungen:
- Der Selbstbestimmung ist mehr Raum zu geben. Das bewirkt zweierlei: Druck sinkt, Motivation steigt. Durch die Wegnahme des extrinsischen Systemdrucks steigt die intrinsische Motivation.
- Die Lehrorganisation muss mehr in Richtung Blockstudium, Selbststudium, Teamarbeit gehen.
- Unter Selbststudium versteht Schulmeister: Aufgaben stellen und Feedback geben. Die Lernenden dürfen nicht platt sich selbst überlassen werden. Die Verantwortung für den Lernfortschritt bleibt auch bei den Lehrenden und wird nicht komplett an die Lernenden abgegeben. Die ständig wiederholte Kontrolle des Lernfortschritts während des Lernprozesses, nicht erst danach, ist unbedingter Bestandteil guter Lehre. Dass ein Studierender die Lernziele nicht erreicht hat, darf nicht erst in der Klausur zu Tage treten.
Wenn man den Lernprozess als ergebnisoffenen Prozess begreift, in dem sich alle Beteiligten ohne Voreingenommenheit, ohne bias bewegen, also echtes erforschendes Lernen, in dem das Ergebnis nicht vorgegeben ist, wird man der geforderten Zukunftsoffenheit und Selbstbestimmung eher gerecht. Wenn der Outcome von vornherein festgelegt ist, handelt es sich nicht um offenes Lernen sondern geschlossenes Training, Programmierung, Konditionierung, Fixierung. Dann wird bloß geübt und eintrainiert, was das Curriculum will.
John Erpenbeck ist der Kompetenzpapst in Deutschland, bekannt geworden durch sein 800 Seiten starkes Handbuch zur Kompetenzmessung. Ja, man kann Kompetenzen auch messen und überprüfen! Erpenbeck repräsentiert allerdings nicht die Mehrheit in der Hochschullandschaft, die Kompetenzen üblicherweise gliedert in Fach-, Methoden-, Personal- und soziale Kompetenzen. Erpenbeck sieht das anders und geht einen Sonderweg. Er versteht unter Kompetenzen die Fähigkeiten, in unerwarteten (zukunfts-) offenen Situationen kreativ und selbstorganisiert zu handeln. Dies beschreibt wie kein anderes Merkmal die „perspektivische Leistung“, für die sich ja die Arbeitgeber bei der Wahl ihrer neuen Mitarbeiter am meisten interessieren. Das ist jedoch nicht der Mainstream. So kommt es, dass ausgerechnet der Kompetenzpapst zum größten Kritiker der allzu flachen Kompetenzauslegung sowohl der Pisa-Studie als auch der Bologna-Reform wird: Pisa habe nichts mit Kompetenz zu tun. Pisa gehe es allzu flach um Wissensbildung, jedoch nicht um Menschenbildung. Kompetenzorientierung ist in den vielen Modulhandbüchern der Bachelor- und Master-Studiengänge nur eine Chimäre, bloße Rhetorik. Eine Umstellung von Inhalts- auf Kompetenzorientierung wäre eine Systemumstellung, die an den meisten Hochschulen noch nicht erfolgt sei.
Erpenbeck verwies auf das Video des Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther „Ohne Gefühl geht gar nichts“. Lernen gehe über emotionale Kompetenz. Weder Qualifikation noch Wissensvermittlung seien Kompetenzentwicklung. Dazu gab Gabi Reinmann in der Diskussionsrunde zu erkennen, dass sie der Argumentation von Erpenbeck nicht ganz folge könne. Seine Aussage „Wissensvermittlung sei keine Kompetenzentwicklung“ sei wenig hilfreich für didaktische Neuerungen und eher ein Kategorienfehler. Diese Beobachtung vertieft sie in ihrem Blog „e-Denkarium“. In „Mut zur Lehre: Didaktische Herausforderungen für ein konstruktives Lernen im Zeitalter des Web 2.0 – oder – Das schwierige Verhältnis zwischen Lehren und Lernen: Ein hausgemachtes Problem?“ geht sie ausführlich darauf ein und fragt, warum „wir“ in unseren methodischen Theorien immer wieder in heillosen Dichotomien verfangen?
In der anschließenden Fragerunde kam es zu folgendem merkwürdigen Dialog:
Frager: Kann man die Konzepte der emotionalen Intelligenz z.B. auf das Bauingenieur-Studium anwenden?
Erpenbeck: Selbstverständlich geht das!
Frager: Wieso?
Erpenbeck: Wenn der Bauingenieur nicht über emotionale Intelligenz verfügen würde, wäre er in der Psychiatrie!
Merkwürdiges Argument. Daraus könnte man folgern, dass alle Leute, die nicht in der Psychiatrie sind, über emotionale Intelligenz verfügen!?
Emotionale Kompetenz kann man so oder so verstehen und mir scheint nicht ganz klar zu sein, worüber gerade geredet wird: (a) Man hat seine Gefühle „im Griff“, was auch immer das heißen mag … (b) Man kennt sich in der „Welt der Gefühle“ aus. (Das wäre aber eher Wissen… oder gar Weisheit …) (c) Man kann viel mit Gefühlen „machen“…
Zum Schluss verwies Erpenbeck auf seine Produkte zur begleitenden Kompetenzdiagnostik KODE® und KODE®X, siehe www.competenzia.de.
Prof. Dr. Wilkesmann von der TU Dortmund zeigte in seiner Studie über non traditional students, dass diese sich mehr Wissenschafts- als Praxisorientierung wünschen, während die Lehrenden immer das Gegenteil glauben. Da gibt es wohl ein deutliches Missverständnis. Der reflexive Umgang mit Wissen ist auch in der Weiterbildung attraktiver als der instrumentelle Umgang. Letzteren haben die Weiterbildenden in der eigenen beruflichen Praxis zur Genüge und wollen ihn nicht auch noch im weiterbildenden Studium haben. Da ist ein deutlicher Wunsch nach geistvollerem Umgang mit Wissen, sowohl auf der Seite der Studierenden als auch der zukünftigen Arbeitgeber. Das Bologna-Ziel der Employability ist daher nicht einfach mit dem Slogan „Noch mehr Praxis!“ abzudecken.
Es gibt derzeit keine Statistik der akademischen Weiterbildung in Deutschland. Daher sind wissenschaftliche Aussagen schwierig. Die Wissenschaftspolitik bewegt sich folglich auf schwankendem Boden. Um es als Paradoxon zu formulieren: Ausgerechnet die Wissenschaft wird nicht wissenschaftlich gesteuert, sondern eher ideologisch. Dagegen hat das BMBF eine Reihe von Forschungsprogrammen initiiert, siehe Bildungsforschung. Bei einer Umfrage im Auditorium stellte sich heraus, dass ca. 70 bis 80% der Teilnehmer der Konferenz Pädagogen waren.
In den parallelen Foren ging es um „Didaktische Konzepte für Studium 2020: Heterogenen Anforderungen und Kompetenzen der Studierenden gerecht werden“ und „Mediendidaktische Implikationen für Studium 2020: Flexibles, lebenslanges Lernen durch Medien ermöglichen“. Darin wurde auch am Rande in einer Nebenbemerkung auf die jüngsten Entwicklungen von „Udacity and the future of online universities“ verwiesen: Der Stanford- und Google-Professor Sebastian Thrun hatte im letzten Semester aus eigener Kraft und mit eigenem Geld seine Lehrveranstaltung „Introduction to Artificial Intelligence“ für das Internet kostenlos geöffnet. Der Erfolg war gewaltig: 160.000 Studierende nahmen weltweit an dem Online-Kurs aktiv teil. 248 Studierende haben die volle Punktzahl in den Übungen bekommen, d.h. sie haben nicht eine einzige falsche Antwort gegeben. Keine/r der 248 war ein/e Präsenz-Studierende/r in Stanford. Alle 248 waren Fernstudierende irgendwo draußen in der Welt. In dem Kurs waren mehr Studierende aus Litauen als Stanford insgesamt Studierende hat. Es gab Studierende aus Afghanistan, alleinerziehende Mütter, usw., die trotz widrigster Umstände teilnahmen. Der Aufwand für Thrun, aus einer kleinen Präsenz-Veranstaltung weltweite Online-Lehre zu machen, war groß, aber machbar. Der Erfolg, mit seiner Online-Vorlesung die Welt wirksamer zu verändern, als das in Stanford alleine jemals möglich war, hat Thrun bewogen, Stanford zu verlassen, die Startup-Firma Udacity zu gründen und jetzt in die Online-Lehre richtig einzusteigen.
Merkwürdig war, wie in Berlin auf diese Ereignisse verwiesen wurde, nämlich als „Verrücktheit“, die man am Rande auch mal zur Kenntnis nehmen solle. Dazu ein deutliches Ja und Nein: Nein, das ist nicht „verrückt“ im Sinne von „wahnhaft“, sondern: Ja, hier wird etwas verrückt, zurecht gerückt, umgeformt, umgestaltet: Hier wird Zukunft gestaltet!