In der Zeitschrift „Forschung & Lehre“, siehe auch www.forschung-und-lehre.de, Untertitel „Was die Wissenschaft bewegt“, schreibt Prof. Holger Noltze im Editorial, dass Hochschulen in einer komplexen Welt lehren sollten, mit Komplexität umzugehen, aber dummerweise das Gegenteil bewirken, nämlich Verblödungstoleranz: Die Toleranz gegenüber jeder Niveau-Absenkung steigt. Die Toleranz gegenüber dem, was man nicht leicht versteht, weil es komplex ist, sinkt. Das liege teilweise auch an der stetig wachsenden Undurchschaubarkeit der Systeme. (Leider hört der Artikel mit der Analyse an dieser Stelle auf.)
Die Undurchschaubarkeit der Systeme erzeugt ein Gefühl von Ohnmacht, und das in einer sogenannten Wissensgesellschaft, die der Devise folgt, Wissen sei Macht. Die Ohnmachtsgesellschaft bringt eine neue Spezies Mensch hervor, den Wutbürger. Offenbar wurde die Schattenseite der Wissensgesellschaft ignoriert: Es wird auch eine gehörige Portion von Ohnmachtsgefühlen erzeugt. Auch dafür ist die Wissenschaft mit verantwortlich. Dagegen kann sie allerdings etwas tun.
Bloggen zum Beispiel. Warum sind so wenige Wissenschaftler in Blogs unterwegs? Weil sie um ihre persönliche Sicherheit besorgt sind: Da werden die Gefahren der Datenkraken mit Orwellschen Szenarien beschworen. Deswegen hält man sich lieber bedeckt. Aus persönlichen Interessen werden die Chancen des Web 2.0 von der Wissenschaft nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es sein könnte.
Ja, Wissenschaftler dieser Welt, dann mal ran!!! Worauf warten wir? Lasst uns die Systeme durchschauen und unseren Durchblick mit der Öffentlichkeit teilen. Wozu sonst gäbe es Web 2.0, wenn nicht hierfür? Systeme durchschauen statt Geheimwissenschaft zu betreiben, ohne Vernebelungsstrategien insgeheim zu verfolgen, ohne Verschwörungstheorien zu pflegen, ohne Besserwisserei, ohne Interessen-Poker, ohne Hidden Agenda, sondern allein der Wahrheit verpflichtet. Systeme durchschauen, die wir Menschen selbst geschaffen haben und an denen wir auch jetzt noch weiter herumbasteln. Systeme, als deren Opfer wir uns fühlen, obwohl wir sie selbst erschaffen haben.
Systeme „der Zukunft“ (dabei gibt es nicht „die“ Zukunft) werden als „alternativlos“ beschworen. Dabei malen wir sie uns wie Orwell als Gefängnisse aus, anstatt zu erkennen, dass sie ihren Ursprung hier und jetzt in unseren eigenen Köpfen, in unseren eigenen Vorstellungen haben. Wie können wir auf eine bessere Zukunft hoffen, wenn wir hier und jetzt nicht aufräumen?
Das ist das Paradoxe unserer Zeit: Einerseits verändern Wissenschaft und Technologie das menschliche Sosein immer stärker und immer schneller. Andererseits gibt es gesellschaftliche Veränderungsprozesse, auf die Wissenschaft scheinbar keinerlei Einfluss hat, wie die zitierte Verblödungstoleranz. Man kann eine Schere beobachten, die immer weiter auseinander geht: Wissenschaft und Realität, Wissen und Leben. Hat sich Wissenschaft in die gesellschaftliche Irrelevanz manövriert?
Wissenschaft selbst erlebt (auch aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Marketing) Ideologisierung und „Religionisierung“: Im amerikanischen Sprachraum spricht man ungeniert von Evangelisten, die eine bestimmte Richtung vertreten und „marktfähig“ machen. Gleichzeitig wird die eigentliche Praxis als unakademisch immer mehr ausgeklammert. Woher kommt diese Praxis- und Realitätsflucht?
Wissenschaft fördert Spezialistentum: In irgendeiner Ecke des riesigen wissenschaftlichen Raums wird ein winziges Puzzlestück hinzugefügt. Dieses Puzzlestück hat mit dem Leben des Wissenschaftlers selbst und der Gesellschaft, in der er lebt, herzlich wenig zu tun. Verfremdung ist ein Markenzeichen wissenschaftlicher Betrachtung.
Dabei ist die wissenschaftliche Herangehensweise sehr frisch, sehr lebendig, problemlösend und hilfreich, wenn da nicht die Praxis- und Realitätsflucht wäre. Die Schere wieder zu schließen, das ist die Aufgabe der heutigen Zeit.