Theoriekompetenz

Für eine akademische Bildung ist es essenziell, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse anwenden zu können, sondern auch eigene Vorstellungen zu modellieren und daraus eigene Theorien zu extrahieren. Daher ist das Konzept einer Fachhochschule als Anwendungsorientierte Universität zu kurz gegriffen: Zu erlernen ist nicht nur die Anwendung fertiger Konzepte und Ergebnisse einer Wissenschaft, sondern auch die Bildung, Explizierung, Dokumentierung, Kommunikation und Qualitätssicherung eigener Vorstellungen, Modelle und Theorien. Das nennen wir Theoriekompetenz als Sammelbegriff.

Theoriekompetenz erfordert nicht nur, Modelle zu explizieren, Begriffe zu prägen, Konzepte zu entwickeln und diese zu dokumentieren und zu kommunizieren, sondern auch die Prinzipien, Zusammenhänge und das Wissen darüber in eine Theorie zu gießen. Anwendungsorientierung ist Top-Down, Theoriebildung ist Bottom-Up:

Der Turing-Award-Preisträger Peter Naur sagte, dass Programmieren eine Theorie-bildende Tätigkeit sei. Gemeint sind

  • Vorstellungen davon, wie das Programm benutzt werden soll.
  • Vorstellungen davon, wie das Programm funktioniert.
  • Modelle von späteren Nutzern.
  • Modelle, wir die verschiedenen Komponenten zusammen spielen.
  • Theorien über Nutzererwartungen.
  • Theorien über Algorithmen.
  • Theorien über Dekompositionsoptimierung.
  • usw.

Es geht also um eigene Theorien, die man selbst konstruiert, nicht um die Reproduktion fremder Theorien. Das passt übrigens gut zum Motto der Aufklärung: Schon Immanuel Kant sagte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ D.h. habe den Mut, Deine eigenen Theorien zu konstruieren. Das bringt uns zum Stichwort „Konstruktivismus„: Man lernt eigentlich immer am Besten, wenn man selber konstruiert: Programme, Software, Vorstellungen, Modelle, Theorien.

Das Problem ist nur, dass diese Vorstellungen, Modelle, Theorien häufig nur im Hinterkopf des Programmierers verbleiben, weder expliziert, dokumentiert noch kommuniziert werden, geschweige denn, dass eine Qualitätssicherung der Vorstellungen, Modelle, Theorien statt findet.

Ein bekanntes Experiment, das auch schon bei Erstsemestern funktioniert, ist folgendes: Man lasse ein komplexes Programm schreiben und sich dieses Programm 10 Tage später vom Programmierer selbst erklären. Und siehe da, er versteht sein eigenes Programm nicht mehr. Dieses Experiment wird häufig im Informatik-Unterricht dazu verwendet, um die Studierenden zur Dokumentation zu motivieren. Das Experiment ist aber viel aussagekräftiger und sollte bis zur Motivation der Qualitätssicherung der Vorstellungen, Modelle, Theorien reichen.

Informatik ist kein Ausbildungsberuf (Lehrberuf), sondern eine akademische Bildung. Das liegt hauptsächlich an der Theoriekompetenz, die die Kompetenz akademischen Arbeitens voraussetzt.

Als Top Trend 2014 sagen IT-Experten voraus, dass die Modellierung und Differenzierung bestehender Modelle in allen Unternehmen und Behörden 2014 beschleunigt weiter gehen wird: Modelle von Geschäftsprozessen, von Business Cases, Nutzerverhalten, Nutzererwartungen, IT-Landkarten, usw. Das, was bisher zwar immer gemacht, aber nie gesagt, expliziert, modelliert oder dokumentiert wurde, soll nun in Modelle und Theorien gegossen werden. Stillschweigende Annahmen werden dann auf den Tisch gelegt und können angeschaut werden. Unbewusstes gelangt ins Bewusstsein und wird der Kommunikation zugänglich. Das ist die Grundlage für einen fairen Diskurs.

(Detail zum Video oben: Die MOV-Datei benötigt nur 123 kB, während das mit ffmpeg generierte animierte GIF 4,7 MB umfasst. Daher habe ich dieses wieder gelöscht. Beide wurden aus einer Keynote-5.3-Animation ins MOV-Format exportiert.)

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