Landkarte für den Bildungsdiskurs

In Berlin gab es am 5.6.2014 bei dem Wettbewerb „Innovative Studieneingangsphase“ des Stifterverbandes auch Konzepte, die den Studienanfängern bei der Frage „Wer bin ich?“ helfen sollten. Eine Psychologin aus einem Team, das sich selbst als „Geballte Frauenpower“ bezeichnete, sah unterstützende Maßnahmen bei dieser Frage als zentrale Idee in ihrem Antrag vor. Daraufhin wurde sie aus der Jury von einem Philosophen gefragt: „Liebe Frau, die Frage ‚Wer bin ich?’ ist min. 2500 Jahre alt und immer noch nicht zufriedenstellend gelöst. Ich selbst bin jetzt über 50 und weiß es immer noch nicht richtig. Wie können Sie es dann von jungen Studienanfängern erwarten, dass diese mit dieser Frage zurecht kommen und eine Antwort finden? Ist das nicht eine Überforderung der Studienanfänger?“ Daraufhin verteidigte die Psychologin ihr Konzept mit dem Argument, dass die Psychologie gute Methoden und Werkzeuge entwickelt habe und solchen Leuten in dieser Frage sehr gut zu einer Antwort verhelfen könne. Sie biete sich auch zu seiner Beratung an. Einem Mann über 50, der nicht wisse, wer er sei, könne geholfen werden. Das erzeugte natürlich Gelächter im Publikum.

Offenbar reden Psychologin und Philosoph aneinander vorbei. Der Psychologin geht es um einen pragmatischen Ansatz, Studienanfängern bei der Studienorientierung und Studienfachwahl zu helfen. Dafür mag ihr Konzept dienlich sein. Gleichzeitig ist es eine Beschränkung auf Pragmatismus, ohne einer tieferen Sinnsuche Raum zu geben.

Dem Philosophen hingegen geht es mehr um die Frage als um die Antwort. Der praktischen Philosophie ist es wichtig, dass jeder Mensch für sich selbst die Frage „Wer bin ich?“ lebendig hält und immer wieder neu stellt. Jede Antwort kann nur eine Momentaufnahme sein und nicht endgültig. Wer sich selbst verwirklichen will, muss sich oft ändern. Das hängt mit dem Erwachsenwerden und dem einher gehenden Reifeprozess zusammen. In diesem stellt sich die Frage immer wieder neu. Wer bei einer definitiven Antwort stehen bleibt, ist in seiner Entwicklung stecken geblieben. Wer an einem starren Selbstbild festhält, ist innerlich erstarrt. Ein Studium darf sich nicht auf reinen Pragmatismus beschränken, sondern auch Raum für Reifeprozesse geben. Kindlichkeit in Erwachsenenkörpern hat die Gesellschaft schon genug.

Die Bildungsdebatte benötigt offensichtlich Landkarten, auf der die unterschiedlichen Ebenen des Bildungsdiskurses abgebildet werden können. Dann würde deutlich, dass lediglich unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen vorliegen, die durchaus nebeneinander stehen bleiben können und beide ihre Existenzberechtigung haben. Wenn jedoch der eine Standpunkt sich dem anderen gegenüber weit überlegen fühlt, wäre das nur ein Zeichen mangelnder Einsicht oder gar Ignoranz.

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