Systemanalyse der Aufmerksamkeit

Unser einfaches Grundmodell ist ein Dreieck:
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1. Aufmerksamkeit ist wie die Kompassnadel, die dorthin zeigt, wo das Interesse liegt. Gleichzeitig ist Aufmerksamkeit wie eine Blende, die mal eng, mal weit gestellt ist, d.h. fokussiert oder allumfassend. Durch Schule und Erziehung wurde die Fokussierung, das Engstellen der Blende trainiert, selten das Weitstellen, die Erfassung des Kontextes, der Rahmenbedingungen, der Umwelt, des Umfeldes, der Stimmung im Raum oder gar des Raumes selbst. Das wurde zu häufig als Abschweifen vom Thema, von der Sachlage, vom „Inhalt“ begriffen und bestraft. Die Ignoranz, der wir heute so häufig begegnen, ist anerzogen und antrainert und nicht die ursprüngliche Natur. Kein Wunder also, dass der Mehrheit der Menschen die Wahrnehmung der Umwelt verloren gegangen ist. Aufmerksamkeit wird häufig sogar synonym gesetzt mit der Fokussierung auf einen Inhalt, der Engstellung der Blende gerichtet auf ein Objekt. Niklas Luhmann verwendet hierfür den universalen Begriff der Reduktion. Wird die Reduktion zum System erhoben, spricht man von einem Reduktionismus. Den berühmten Spruch „Denn sie wissen nicht, was sie tun …“ könnte man ergänzen durch „Sie sehen es noch nicht einmal …“. Das Physikergenie Einstein sagte einmal, er wundere sich darüber, dass aus diesem Bildungssystem überhaupt noch halbwegs vernünftige Menschen heraus kämen. Vermutlich meinte er jenes Training des erbarmungslosen Reduktionismus?

2. Körper-Verstand-Emotionen bilden das psycho-physische System. Das ist selbst ein Dreieck von Komponenten, die sich gegenseitig unterstützen, befeuern und bestätigen können. Emotionen können körperliche Schmerzen oder Glücksgefühle bewirken und umgekehrt. Gedanken können alle möglichen Emotionen erzeugen und umgekehrt. In unserem Modell betrachten wir dieses psycho-physische System als Subsystem und nicht als das Ganze, wie so häufig in der Psychologie. Dieses Subsystem als Gesamtsystem zu betrachten, wäre in unserem Modell bereits ein Reduktionismus.

3. Das Geistige kann man schlecht in Termini der Objekte und Formen beschreiben. Hier gilt das Prinzip der Wittgensteinschen Sprachspiele, mit denen man sich dem Zeigen auf das Geistige nähern, es aber begrifflich nicht so ganz und vollständig erfassen kann. Das Geistige hat nicht die gleiche Festigkeit, sonst wäre es nicht das Geistige. Vergeistigung geschieht z.B. mittels Abstrahieren, welche einem das Glücksgefühl des Verstehens vermittelt, ein Ablösen vom Konkreten, welches einem das Glückgefühl der Befreiung vom Konkreten vermittelt, auch von konkreten Beispielen. Platon spricht von Ideen statt Gedanken: Die Gedanken sind im Höhlengleichnis bloß die Schatten an der Wand, nicht die Ideen selbst. Mark Zuckerberg hatte zuerst die Idee von so etwas wie Facebook, bevor er mit vielen Gedanken und noch mehr Programmzeilen diese Idee umsetzte. Niklas Luhmann sieht als Vergeistigungsprozess auch den Übergang von der Betrachtung als Form hin zur Betrachtung als Medium. Z.B. ist dieser Blogeintrag eine konkrete Form mit einem Anfang und einem Ende und einer eindeutigen Adresse, der URL, und gleichzeitig ein Medium für den Transfer von Ideen. Aber so eindeutig und fest ist das nicht, denn Ideen können sowohl konkrete Objekte innerhalb eines psychischen Systems sein als auch Abstraktionen, die davon ablösen, einen gewissen Abstand erzeugen und aus der Entfernung Dinge betrachten lassen, die man aus der Enge des psychischen Systems nicht sehen kann. In der Hochschullehre gibt es auch den Übergang vom Fachlichen zum Methodischen, weg von den fachlichen Lernobjekten hin zu Methoden für den Umgang mit dem Fachlichen. Auch das ist schon eine Abstraktion, die sich sehen lassen kann. Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen, dass es viele Erscheinungsformen gibt, das Geistige jedoch keine dieser Formen selbst ist. Jedes Schubladendenken, das auf das Sortieren der Formen in Schubladen reduziert ist, wird daran verzweifeln.

4. Die Sachlage ist das was ist, die Realität hier und jetzt und nicht meine Vorstellung von ihr. Die Reduktion auf die Sachebene kann in Meetings sehr hilfreich sein, um aus der jeweiligen Fixierung der Teilnehmer auf ihre widerstreitenden psychischen Systeme zu befreien. Versachlichung einer erhitzten Debatte ist eine Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von den psychischen Systemen hin zur Sachebene.

Der Kompass in der Mitte des Diagramms symbolisiert die Funktion der Aufmerksamkeit im Gesamtsystem. Die Nadel des Kompass kann in alle drei Richtungen zeigen so wie sich die Aufmerksamkeit allen drei Komponenten unseres Grundmodells zuwenden kann. Anders als die Kompassnadel kann sich die Aufmerksamkeit aber auch mehreren Komponenten gleichzeitig zuwenden und im besten Fall alle drei Pole im Blick und in der gefühlten Wahrnehmung haben.

In diesem Dreieck unseres Grundmodells kann man nun wunderschön verschiedene Pathologien studieren die durch eine Einseitigkeit der Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf nur eine der drei Komponenten entstehen kann.

Davon mehr im nächsten Blogeintrag.

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