Shitstorms, Likes und die Macht der Suchmaschinen – wie digital leben wir? – Podiumsdiskussion in der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg

Die Hochschule eröffnet mit dieser Podiumsdiskussion das Forum für Verantwortung. Zum Podium gehörten Markus Beckedahl und Falk Lüke, die das Buch „Die digitale Gesellschaft“ geschrieben haben, der Spiegel-Journalist Dirk Kurbjuweit, die Bildungswissenschaftlerin Frau Dr. Mandy Rohs und Prof. Dr. Hartmut Ihne, Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Es moderierte die Wissenschaftsjournalistin Frau Dr. Isabell Lisberg-Haag.


Die Ausgangsfrage war: Was ist das Wichtigste für Sie, wenn Sie an Verantwortung im Netz denken? Im Laufe der Diskussion wurde aber auch deutlich, dass es auch um andere Fragen geht: Unterstützt das Internet Demokratisierung oder wirkt es ihr entgegen? Ebenso Bildung. Wir sehen Effekte und Wirkungen in beiden Richtungen.

Beckedahl: Bloggen bedeutet, zum Sender werden. Es publiziert einfach jeder. Kinder und Jugendliche probieren es einfach aus. Was heißt das für Verantwortung?

Ihne: Wir brauchen eine Aufklärung 2.0.

Lüke: Verantwortung setzt Transparenz und entsprechende Instrumente voraus: Ich kann nur Verantwortung für etwas haben, was ich sehen kann und mir zugänglich, transparent ist.

Weitere interessante Stichworte:

  • Politik hat das Thema Internet zuerst nicht ernst genug genommen.
  • Eine Grundfunktion des Computers ist Kopieren, nicht Verschieben. Wenn man Kopieren verbietet (Copyright-Schutz), funktioniert der Computer nicht mehr (im Prinzip). Die Copyright-Diskussion ist manchmal ziemlich weltfremd, fachfremd, computerfremd.
  • Ist anonyme Meinungsäußerung wichtig für das Funktionieren der Demokratie? Es gab einen fundamentalen Dissens über das Recht auf Anonymität. Wäre eine Klarnamen-Pflicht oder -Selbstverpflichtung hilfreich? Beckedahl berichtete über ein Forum, dass man auf Facebook-Accounts umgestellt und damit implizit Klarnamen eingeführt habe, jedoch ohne Effekt: Die Leute schreiben ihre Frustkommentare auch dann, wenn ihr echter Name damit verbunden wird, auch dann wenn sie bei der Google-Suche noch Jahre später unter dem entsprechenden Stichwort mit genau diesem Frustkommentar erscheinen.
  • Ist ein Einschreiten bei Frustkommentaren undemokratisch?
  • Ist Shitstorm undemokratisch? Shitstorm kann eigentlich beides, sowohl demokratische Prozesse fördern als auch diese verhindern. Kurbjuweit berichtete davon, dass bereits einige Politiker Angst vor Shitstorm haben und sich in ihren Äußerungen zurück halten. Schweigende Politiker seien keine gute Entwicklung. Aus dem Publikum kam die Bemerkung, dass es doch auch gut sei, wenn sich Politiker gründlicher überlegen, was sie sagen.
  • Wenn man einen Frustkommentar unter seinem Klarnamen geschrieben hat, kann es durchaus dazu führen, dass man noch jahrelang hoch im Google-Ranking steht und dass dadurch der eigene Name mit diesem Frustkommentar identifiziert wird.
  • Niemand weiß, was mit den Daten bei Apple, Google, Facebook und Amazon gemacht wird, auch nicht der Datenschutzbeauftragte. Das ist keine Frage der Bildung. Auch Fachleute, auch Informatiker wissen das nicht.
  • Bildung spielt jedoch auch eine wichtige Rolle beim richtigen Umgang mit dem Netz. Lüke fragte, wer im Publikum sein Handy geROOTet habe. Nur der habe sein Handy wirklich unter Kontrolle. Mit dem Begriff ROOT ist gemeint dass man Administrator-Rechte bei seinem Smartphone bekommt, und somit Zugriff auf Hersteller- und Provider-Funktionen hat. Dann kann man auch Zugriffe auf Privates abschalten, die in die Apps allzu freizügig hinein programmiert seien. Im Publikum war niemand, der diesen Schritt getan hatte. Und das in einer Hochschule!
  • Die Hochschule habe die Pflicht zur Aufklärung über Alternativen zu Apple, Google, Facebook und Amazon, z.B. iXQuick, StartPage, DuckDuckGo, usw.
  • Hochschulen verändern sich durch das Netz ebenfalls. Zuerst sind zu nennen die Digital Natives mit ihrem veränderten Perzeptionsverhalten und Lebensstil. Dozenten, deren Lehrstil auf die persönliche Weitergabe von Wissenschaft abgestimmt sei (Meister-Schüler-Verhältnis: Weitergabe des Geistes einer Fachwissenschaft), sind vom digitalen Wandel weniger betroffen als Konstruktivsten, die die Rolle des Dozenten zurück fahren auf die eines Coaches oder Lernberaters und den Lernprozess hauptsächlich beim Studierenden sehen („From Teaching to Learning“). Im Konstruktivismus geschieht Lernen durch das eigene, aktive, soziale Konstruieren und das zunehmend im Internet.
  • Wann und wie könne sich eine Art „Facebook-Gewerkschaft“ bilden, die sich von der Firma Facebook nicht mehr alles gefallen lasse, sondern Mitbestimmung aushandle. Derzeit muss man min. über 200 Millionen Facebook-User aktivieren, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Erkenntnis: Die Mechanismen aus der realen Welt („meat space“) lassen sich nicht so ohne weiteres auf das Internet übertragen.
  • Das Netz sei selbst noch ein Kind. Die Netzgesellschaft sei eine Form von Gesellschaft, die noch nicht zivilisiert sei. Wie zivilisiert man die Netzgesellschaft? Wir haben keine Grundstrukturen. Ist das Netz Barbarei? Ist ein Kopieren = Klauen?
  • Typisierung von Netz-Leuten: Netzanarchisten,
    Netzpragmatiker, Netzhedonisten, Netzaverse, Netzferne, Netzkritiker, etc
  • Das Netz sei kein Gegenüber mehr. Wir sind das Netz! Wir erleben gerade das Ankommen des Netzes in der Gesellschaft. Wir erleben ein Zusammenwachsen.
  • Identität war ein zentrales Thema:  Identität ist ein Konstrukt. Identitätskonstruktion geschehe zunehmend im Netz.
  • Anonymität, Pseudonyme waren wichtige Themen: Ist Anonymität demokratiefeindlich oder -freundlich?
  • Kann man das Netz überhaupt noch abschalten? Immer wieder abschalten sei wichtig! Die Abhängigkeit des Bürgers vom Netz im Alltag werde jedoch ständig größer.
  • Eigentum wird schwammiger: Es geschehe eine Virtualisierung eines ehemals materiellen Symbols. Z.B. könnte meine Musiksammlung weg sein, wenn Apple pleite wäre (rein hypothetisch natürlich). Eine große Internet-Firma habe ausgerechnet das Buch „1984“ von George Orwell von den eBook-Readern per Fernzugriff gelöscht. Das gekaufte Buch war weg. Die AGBs lassen das zu. Das sei so, als ob man dem Verlag oder der Buchhandlung das Recht einräumt, jederzeit in mein Wohnzimmer einzubrechen und gekaufte Bücher aus dem Regal zu nehmen. Weitere Konsequenz der Virtualisierung: Ich kann meine Musiksammlung nicht mehr vererben. (Kommentar: Dabei wurde natürlich vergessen, dass auch CDs eine sehr begrenzte Lebensdauer haben und die Idee eines Vererbens auch nur Illusion ist.)
Insgesamt eine interessante und spannende Diskussion, die eigentlich noch mehr Fragen zurück gelassen hat als beantwortet. Gut das es Fortsetzungen gibt in der Reihe „Forum Verantwortung“, in der die Diskussion um diese Themen weiter gehen kann. 

Position:Hochschule Bonn-Rhein-Sieg,Sankt Augustin,Deutschland

Weitere Quellen: netzphilosophieren und General-Anzeiger

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