Bewusstseinstheorie und Konsequenzen für die Bildungspolitik

Bewusstseinsbildung kann man durchaus zum Ziel einer Bildungspolitik erheben: Die Frage ist nur, was heißt das genau? Kann man das Ziel konkretisieren oder gar mathematisch fassen?

In der mathematischen Theorie der integrierten Information von Giulio Tononi wird für die Messung von Bewusstsein das informationstheoretischen Maß Φ eingeführt (mit dem griechischen Buchstaben Phi). Φ wächst mit Integration in Netzwerken hinreichender Komplexität und sinkt mit der Anzahl des nicht integrierten Wissens und der nicht integrierten Kompetenzen (Differenzierungen). Bewusstsein bildet sich durch Vernetzung, Differenzierung und gleichzeitig zunehmender Integration (auch weit auseinander liegender Module, Strukturen, Prozesse und Ebenen). Der Grad an Synergie und der Präsenz (= Verfügbarkeit = Abrufbarkeit) des Gesamtsystems ist entscheidend.

Grob könnte das mit folgender Gleichung angenähert werden (wobei diese Vereinfachungen auch ihre Grenzen hat: Sie bildet den positiven Effekt der zunehmenden Differenzierungen nicht ab. Für die Zwecke dieses Blogeintrags soll es aber erst einmal reichen):

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Im Laufe eines Lebens kann sich das Φ-Maß völlig unterschiedlich entwickeln, so dass die Kurven für das Φ-Maß völlig unterschiedlich aussehen können:

  • Zu Beginn eines Lebens gibt es keine Differenzierung, noch nicht einmal zwischen „Ich“ und „Du“. Daher ist initial alles im Bewusstsein eines Neugeborenen integriert. Jeder Mensch beginnt sein Leben also mit Φ = 100%, allerdings mit einer minimalen Anzahl von Kompetenzen und Differenzierungen.
  • Im Laufe eines Lebens werden viele Kompetenzen und Differenzierungen in schnellerer Folge gelernt, als dass sie miteinander integriert werden könnten. Es ist zunächst wichtiger, das Neue zu lernen als zu integrieren. Das Vermögen der Integration aller gelernten Differenzierungen kann mit dem Tempo des Lernens nicht Schritt halten. Daher sinkt der Φ-Wert.
  • Je nach Lebensverlauf und dem Ausmaß der Integration der gelernten Differenzierungen können die Kurven für das Φ-Maß völlig unterschiedlich aussehen, wie das folgende Diagramm an den beiden Fällen A und B zeigt:
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Dabei unterscheiden wir grob zwei Fälle:

  • Im Fall A werden viele Kompetenzen und viel Wissen gelernt, dann irgendwann (in unserer Kurve ab dem 20. Lebensjahr) auch zunehmend zueinander in Beziehung gesetzt und zu einem Ganzen integriert. Daher steigt das Φ-Maß wieder. Es kommt zu mehr Bewusstsein auf einem höheren Niveau mit mehr Wissen und mehr Kompetenzen als jemals zuvor.
  • Im Fall B werden nur Wissen oder Kompetenzen hinzu gefügt, aber nicht zu einem Ganzen integriert. Daher sinkt das Bewusstsein, obwohl lebenslang gelernt wurde. Lebenslanges Lernen ist kein Wert an sich, wenn Wissen und Kompetenzen nur gesammelt werden.

Die heute oftmals beklagte Fragmentierung hat ihre Wurzeln nicht nur im Smartphone-Konsum, sondern auch in der Bildungspolitik. Die Ergebnisse eines Bildungssystems mit (A) Integration oder (B) Fragmentierung sind wesentlich verschieden, wie das folgende Diagramm veranschaulicht. Werden Spezialwissen und Einzelkompetenzen nur gesammelt, ohne zu integrieren, bleibt es bei einer Art Flachland. Mit Integration entwickelt sich jedoch eine dritte Dimension:

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Welche Konsequenzen hat die Bewusstseinsforschung für die Hochschulpolitik?

  • Im Zuge der Bologna-Reform wurde die Differenzierung extrem voran getrieben: Wir haben mittlerweile 16.826 Studienangebote in Deutschland. Die Maßnahmen zur Integration konnten nicht im gleichen Tempo Schritt halten.
  • Als Ziele wurden Modularisierung, Internationalisierung, Outcome- und Kompetenzorientierung, Lebenslanges Lernen, Diversität, usw. genannt. Diese Ziele können positiv, aber auch negativ zur Bewusstseinsbildung beitragen. Daher muss die Hochschulpolitik die Ziele besser in Beziehung setzen und zu einem geordneten Zielegeflecht integrieren. Zielkonflikte sind zu erkennen und Lösungen aktiv zu integrieren.
  • Modularisierung hat das Ziel, jedes Modul getrennt lehren und studieren zu können. Die Austauschbarkeit soll zur höheren Flexibilität beitragen. Reihenfolge und Ort der Bildung sollen austauschbar werden. Damit wird die Differenzierung weiter voran getrieben, ohne Wege der Integration aufzuzeigen. Das Φ-Maß kann dadurch sinken. Die Bildungsqualität in Europa kann darunter leiden.
  • Zwischen Modularisierung und Integration der Bildungseinheiten kann es einen Zielkonflikt geben.
  • Lebenslanges Lernen kann auch bedeuten, dass lebenslang nur Kompetenzen hinzu gefügt, aber nicht zu einem Ganzen integriert werden. Das Φ-Maß kann dadurch sinken. Die individuelle Bildungsqualität kann darunter leiden.
  • Das Ziel der Kompetenzorientierung kann nicht sein, möglichst viele Kompetenzen zu sammeln. Diese müssen auch in Beziehung gesetzt, miteinander abgeglichen und integriert werden. Der Gefahr der Produktion von Fachidioten muss entgegen gesteuert werden durch Studium Generale, Ringvorlesungen, Interdisziplinarität, Transdisziplinarität, Internationalisierung und allen weiteren Maßnahmen, die zur Integration der Kompetenzen zu einem Ganzen beitragen können.
  • Der Lehrkörper kann die Aufgabe der Integration des vielen Fachwissens zu einem Ganzen nicht den einzelnen Studierendenköpfen unkoordiniert überlassen, sondern muss auch eigene Lehrformate für diesen Zweck entwickeln.
  • Der Einzelwissenschaft kann man die Aufgabe der Integration mit anderen Wissenschaften nicht unkoordiniert überlassen. Vielleicht muss eine eigene Integrationswissenschaft zu diesem Zweck entwickelt werden.
  • Praxisorientierung ohne Einordnung und Integration des gewonnenen Erfahrungswissens in das Wissensrepertoire reicht nicht. Mit der Integration von Erfahrungswissen in ihren Wissensschatz sind Anfänger überfordert und benötigen entsprechende Anleitung.
  • Erfahrungen in der Lehre führen nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Lehre. Hinzu kommen muss eine aktive Reflexion über die gewonnenen Erfahrungen und eine Integration in das Lehrmodell, Curriculumdesign und die Lehrziele.
  • Diversität ohne aktive Integration schafft noch kein Bewusstsein.

Die Toleranz-Gesellschaft mit dem Leitgedanken des alten Preußenkönigs „Jeder soll nach seiner Facon selig werden!“ bekommt tatsächlich eine wichtige Aufgabe: die Aufgabe der Integration.

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