Bewusstseinswissenschaft

Die moderne Bewusstseinsforschung erhebt den Anspruch, empirisch durch Experimente und klinische Studien zu zeigen, was sich über Bewusstsein wirklich sagen lässt. Eine Tausende Jahre alte metaphysische Diskussion wird verwissenschaftlicht. Bewusstseinswissenschaft etabliert sich als neuer Wissenschaftszweig. Mittlerweile arbeiten 50.000 Wissenschaftler weltweit auf diesem Gebiet und produzieren wissenschaftliche Erkenntnisse in einer historisch neuartigen Geschwindigkeit. Auch die Lernforschung, Schul- und Hochschulpolitik kann daran nicht mehr vorbei sehen.

In seinem neuen Buch „Bewusstsein“ fasst Prof. Christof Koch, Caltech, Pasadena, Kalifornien, den Stand der Forschung gemischt mit seiner eigenen Geschichte gut lesbar zusammen:

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Bewusstseinsforschung ist bei folgendem kognitiven Modell der Gehirntätigkeit angelangt:
        Das Selbstbild des Menschen, als Krönung der Schöpfung ein rational bewusst entscheidendes Wesen (Descartes „Cogito ergo sum“) zu sein, ist eine kognitive Täuschung. Geben wir ihr daher den Namen „Cogito-ergo-sum-Täuschung“.
        In Wirklichkeit sind die meisten Gehirntätigkeiten unkontrollierte, unbewusste Automatismen. Koch nennt sie die Zombie-Armee, die in jedem Menschen vorkommt. Jeder Zombie zeigt adaptive, aber stereotypische, berechenbare Verhaltensweisen. Zombies arbeiten feste Verfahren unflexibel ab ohne eigenes Bewusstsein. Zombies entstehen durch Wiederholung, Konditionierung, stupides Lernen, stures Training und sind für Routinehandlungen unterhalb des Radars des Bewusstseins als Handlungsbeschleuniger sehr willkommen: Daher kann Handeln schneller sein als Bewusstsein: Der Unterschied beträgt ca. 250 msec. In dieser Zeit ist Usain Bolt bereits 2,5 m weiter gesprintet …
        Koch: „Ständiges Wiederholen schafft eine Armee von Zombies“. Zombies sind nicht auf primitive Tätigkeiten oder auf das „Muskelgedächtnis“ beschränkt, sondern es gibt sie auch bis zu den höchsten, anspruchsvollen geistigen Tätigkeiten.
        Zombies behalten ihre Informationen für sich. Dadurch sind sie autonomer, schneller und effizienter.
        Einen Zombie unterhalb des Radars des Bewusstseins wieder in das Licht des Bewusstseins zu heben, kostet einen hohen Preis: Die Handlungen verlangsamen sich, werden instabil und fehleranfälliger.
        Viele Zombies werden sozial gelernt, sind gesellschaftlich akzeptiert und sichern die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Viele dieser sozialen Zombies sind schädlicher als bewusste Vorurteile.
        In der Bewusstseinsforschung nennt man in einem Gedankenexperiment Wesen ohne Bewusstsein „Philosophische Zombies„: In dem Gedankenexperiment stellen sich Philosophen die Frage, ob und wie sie von außen betrachtet bewusste Wesen von unbewussten Wesen, den Zombies, unterscheiden könnten.
        
        Neben den vielen modularen, wenig vernetzten Automatismen, den Zombies, haben komplexe Systeme (wie das menschliche Gehirn) auch die Chance zur Bewusstseinsbildung durch Vernetzung, Differenzierung und gleichzeitig zunehmender Integration (auch weit auseinander liegender Module, Strukturen, Prozesse und Ebenen). Der Grad an Synergie und der Präsenz (= Verfügbarkeit = Abrufbarkeit) des Gesamtsystems ist entscheidend.
        Bewusstsein zeigt sich in der Bewältigung von unerwarteten und neuartigen Situationen („Schwarzer Schwan„-Ereignissen). Damit kommen bewusste Systeme besser zurecht als Automatismen. Das ist der evolutionstechnische Vorteil bewusster Systeme.

Bei der Diskussion, ob der Mensch einen freien Willen habe, plädiert Koch für die Unterscheidung von drei Schritten in der Sequenz zur Ausführung einer Handlung „aus freiem Willen“:

  • Gefühl der Absicht
    • bewusst oder unbewusst
    • fokussiert oder defokussiert
  • Gefühl der Inhaberschaft
  • Gefühl der Handlungskompetenz

Zombies fehlt das Gefühl der Absicht, der Inhaberschaft, der Verantwortung und des freien Willens. Konfabulieren ist das nachträgliche Erfinden einer Geschichte, um seine Entscheidungen und Handlungen im Nachhinein zu rechtfertigen, auch wenn diese unbewusst erfolgt waren. Der Konfabulierende spricht nicht die Wahrheit, empfindet es aber anders. Das Libet-Experiment zeigt, dass das Gefühl der Absicht nachträglich eintritt, nachdem das Gehirn schon aktiv geworden ist, um eine Handlung auszuführen. Konfabulieren daher alle Menschen?

Was ist Bewusstsein?

  • Bewusstsein ist eine emergente Eigenschaft von Netzwerken hinreichender Komplexität.
  • Die Aktivität in dem Netzwerk muss eine bestimmte Schwelle überschreiten um vom unkontrollierten Abspulen der Automatismen über zu gehen zu Bewusstsein.
  • Während die Automatismen ihre Informationen für sich behalten (was sie autonomer und effizienter macht), lebt Bewusstsein vom Austausch und Hineinnehmen von Informationen.
  • Bewusstsein ist sowohl lokal als auch global: Neurophysiologisch hat das Bewusstseinsphänomen sowohl mit lokalen als auch mit globalen Hirnstrukturen und -prozessen zu tun. Das „Bewusstsein-Neuron“ gibt es nicht, wohl aber Konzept-Neuronen. (Seit 2005 gibt es aber auch schon die Theorie des Konnektum, die Koch leider nicht erwähnt: Nicht die lokalen Einheiten [Neuronen, Synapsen, Areale und Kerne] prägen uns, sondern die synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen.)
  • Wissenschaftlich wird Bewusstsein letztendlich durch Informationstheorie erklärt. Informationstheorie wird als die geeignete Sprache für eine wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins gesehen. (Nicht-wissenschaftliche Theorie-Versuche gibt es seit Jahrtausenden. Christof Koch bekommt wöchentlich dicke Abhandlungen zugesandt, die er aber wegen Unwissenschaftlichkeit ablehnt. Jeder glaubt bei der Theorie des Bewusstseins mitreden zu können, nur wenige können jedoch wissenschaftliche Experimente und klinische Doppelblind-Studien vorweisen.) Die mathematische Theorie der integrierten Information von Giulio Tononi ist ein wissenschaftlicher Theorie-Versuch:
  • Diese Theorie besagt, dass Bewusstsein mit Differenzierung und gleichzeitiger Integration wächst. Differenzierung und Integration sind gegenläufige Ziele. Der Zielkonflikt wird erst durch Bewusstsein erkannt und bewältigbar. Wie gut dies gelingt, wie viel mehr das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, zeigt sich in der Synergie der Teile und wird in dem informationstheoretischen Maß Φ gemessen. Φ ist ein Maß für Bewusstsein. Koch: „Je stärker integriert und höher differenziert ein System ist, desto bewusster ist es.“ Damit wird die mathematische Grundlage für einen „Bewusstseinsmesser“ gelegt. (Allerdings fehlt für meinen Geschmack noch Synergie und Präsenz.)
  • Im traumlosen Tiefschlaf sind die Neuronen noch aktiv, leisten jedoch keine Integration mehr. Die neuronale Verarbeitung von Reizen bleibt lokal begrenzt.
  • Bewusstsein ist verschieden von Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit erfüllt eine klare funktionale Aufgabe der Selektion und Filterung von Informationen, Bewusstsein hingegen nicht. Es gibt Bewusstsein ohne Aufmerksamkeit (ohne auf bestimmte Objekte zu fokussieren) und Aufmerksamkeit ohne Bewusstsein (bei automatisierter Behandlung der fokussierten Objekte).

                
Christof Koch hat aus seiner wissenschaftlichen Arbeit auch ein paar praktische Lebensregeln im Umgang mit Bewusstsein für sich selbst gezogen:
Koch versucht

  • sich von inneren und äußeren Zwängen so frei wie möglich zu halten
  • den Planeten in einem besseren Zustand zu hinterlassen, als er ihn vorgefunden hat
  • seine unbewussten Motive, Wünsche und Ängste besser zu verstehen.

Ein Strudel von Emotionen kann Bewusstsein beeinträchtigen, täuschen oder gar verhindern. (Daher ist John Erpenbecks Zielsetzung, generell mehr Emotionen in die Lernprozesse einfließen zu lassen, in dieser Generalität nicht haltbar.)        Die „küchenpsychologische“ Vorstellung, mit „Redekuren“ sich selbst auf die Schliche kommen zu können, wie es Sigmund Freud noch empfohlen hat, ist Fiktion und beruht auf der Cogito-ergo-sum-Täuschung. Reden dient manchmal der Vermeidung von Erkenntnis. (Daher ist der Coaching-Ansatz auch fragwürdig. Christof Koch schreibt: „Diese Freudianischen Konzepte sind in den Sprachgebrauch eingegangen und werden erst allmählich durch stärker auf das Gehirn konzentrierte Konzepte ersetzt.“)

        Bewusstsein ist auch in Maschinen möglich. Künstliche Intelligenz (KI) als Teilgebiet der Informatik hatte ihren Hype vor ca. 25 Jahren. Damals hat sie die übertriebenen Erwartungen nicht erfüllt und die Forschung hat sich enttäuscht von dem Thema abgewandt. Daher ist man bei der künstlichen Nachbildung der Intelligenz eines Kindes von ca. 6 Jahren stecken geblieben. Die neurowissenschaftlichen Befunde sprechen jedoch nicht dagegen, dass mit dem technologischen Fortschritt und komplexeren künstlichen Gehirnen auch hier Fortschritt möglich sein müsste. Es spricht auch nichts dagegen, dass das Φ-Maß von künstlichen Gehirnen das des menschlichen Gehirns bald überflügeln wird. Ray Kurzweil spricht von der technologischen Singularität als dem Punkt in der Geschichte der Bewusstseinsentwicklung, bei dem künstliche die menschliche Intelligenz überholen wird. Dieser Punkt wird Mitte dieses Jahrhunderts erwartet. Damit bezieht er sich aber nur auf die Komplexität der Gehirne. Ungelöst bleibt die Frage, wie die Differenzierung und Integration geleistet werden soll. Hier bleibt die KI noch viele Antworten schuldig.
        
        Wir sind außerdem Zeitzeugen der Entstehung einer neuen Art von Bewusstsein im Internet: Menschheitsbewusstsein entsteht vor unseren Augen im Internet, wir haben es nur noch nicht richtig verstanden, d.h. es fehlt noch eine gute Theorie. Dabei stecken Vernetzung, Differenzierung, Integration und Synergie und damit das Φ-Maß des Internet-Bewusstseins in den Kinderschuhen, wachsen jedoch stetig. Man könnte dem Fachgebiet „Web Engineering“ die Zielsetzung geben, Menschheitsbewusstsein zu ermöglichen und zu fördern, indem neue Mechanismen zur Vernetzung, Differenzierung, Integration und Synergie im Web erfunden, entwickelt und implementiert werden.

        Wer oder was hat eigentlich Bewusstsein? Der Mensch ist nicht alleine. Auch bei Tieren gibt es Bewusstsein, je nach Größe und Komplexität des Gehirns in unterschiedlichem Φ-Maße. Aus der Erklärung führender Neurowissenschaftler in der „Cambridge Declaration On Consciousness“ von 2012 geht klar hervor, dass klinische Belege eindeutig dafür sprechen, dass auch Tiere Bewusstsein haben, das menschlichem gar nicht so unähnlich ist. An dieser Erkenntnis geht kein Weg mehr vorbei und dies müsste eigentlich gewaltige gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen: Tiere sind keine Bäume, auf denen Fleisch wächst.

        Ist Sprache und Kultur etwa das letzte Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier? Wohl kaum. Uns fehlt lediglich noch der „Universal Translator“, um Sprache und Kultur über Spezies-Grenzen hinweg verständlich zu machen. Der Miterfinder des Internets, Vint Cerf, arbeitet bereits am Interspezies-Internet, siehe TED-Video 2013.

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