Mechanistischer MINT-Unterricht

In der Mathematik werden zwei Problemtypen unterschieden anhand ihres kognitiven Anspruchs: Typ-A und Typ-B:

Typ-A-Probleme werden in drei Schritten gelöst: Korrespondenz, Regel-Identifikation und Regel-Anwendung. Typisches Beispiel aus der PISA-Studie: „Ein Dachboden hat an jeder Seite die Länge von 12 m. Welche Fläche hat der Dachboden?“

Typ-B-Probleme sind dagegen nicht-deterministisch (a) in ihrer Lösung, (b) im Lösungsansatz und (c) im Lösungsprozess. Der Lösungsweg ist i. Allg. (i) iterativ, (ii) kommunikativ und (iii) interaktiv, d.h. man muss im Laufe des Lösungsprozesses Rückfragen stellen, Dinge ausprobieren und mit dem Problem- und Lösungsumfeld interagieren. Beispiel für ein Typ-B-Problem: „This problem is introduced to sixth grade students (12 years of age). “Create and animate a butterfly that has only the ability to fly and to detect collision with walls. The butterfly lives inside a greenhouse divided into 16 rooms. All rooms are connected to the adjacent rooms via open doors”. The butterfly must be able to traverse all 16 rooms in the greenhouse. This problem has multiple solutions, many of which are suboptimal, and many as well, quasi-optimal.“

Diese Definitionen findet man in folgendem Aufsatz:

Olabe, J., Basogain, X., Olabe, M., Maz, I. & Castao, C. (2014). Solving math and science problems in the real world with a computational mind. Journal of New Approaches in Educational Research (NAER Journal), 3(2), 75-82. University of Alicante.

http://www.editlib.org/p/148241/

Die Autoren stellen fest,

  • dass Typ-B-Probleme höhere kognitive Prozesse erfordern als Typ-A-Probleme;
  • dass die Lösung von Typ-A-Problemen vollständig mechanisiert werden kann, d.h. man kann einen Algorithmus finden, der diese Art von Problemen selbstständig löst;
  • dass der typische Mathematik-Unterricht sich nur mit Typ-A-Problemen beschäftigt;
  • dass man im Berufsalltag, heute und morgen, eher mit Typ-B-Problemen zu tun hat.

Die Berufe des Vor-Computer-Industriezeitalters erforderten die Typ-A-Problemlösekompetenz. Dabei kam es hauptsächlich auf Schnelligkeit und Fehlerfreiheit an. Der Mathematik-Unterricht wurde auf den Erwerb der Typ-A-Problemlösekompetenz hin optimiert. Die Prüfungsverfahren und Klausuren spiegeln genau diese Typ-A-Orientierung wieder. Das kam dem Typus des „ordentlichen Menschen“ sehr entgegen, dämpfte oder blockierte jedoch den „kreativen Menschen“ (vgl. Typologie von Gunter Dueck, einer Erweiterung des Myers-Briggs Typenindikator und Keirsey Temperament Sorter). Der ordentliche Mensch benötigt eine feste Methode, die er Schritt für Schritt abarbeiten kann, während der kreative Mensch Freiraum für seine Entfaltung benötigt.

Vor der Verbreitung des Computers mussten die menschlichen Gehirne „mechanisiert“ werden, weil sie im Beruf wie zuverlässige Maschinen einsetzbar sein sollten. Das mechanistische Menschenbild führte zu einem mechanistischen MINT-Unterricht (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) mit mechanistischen Qualitätskriterien. Vergleichsverfahren wie PISA testen genau dies ab.

Das gesellschaftliche Gesamtsystem der Ausrichtung auf Typ-A ist in sich schlüssig, ignoriert jedoch die Weiterentwicklung der Gesellschaft durch die Computerisierung und Digitalisierung hin zu Typ-B. In dem alten mechanistischen Menschenbild wird Typ-A höher gewertet als Typ-B. Man versucht auch Typ-B-Szenarien auf Typ-A dadurch abzubilden, dass man sogar für nicht-deterministische Problemstellungen Methoden an die Hand geben will, die diese ein wenig deterministischer und damit beherrschbarer machen sollen. Es ist nicht die kreative Problemlösung gefragt, sondern das methodische Vorgehen.

Durch die Digitalisierung haben wir heute den Luxus, das Mechanistische an Computer delegieren zu können. Der MINT-Unterricht und die MINT-Prüfungen müssen dementsprechend stärker auf

  • (⚽︎) „Digitale Delegationskompetenz“: Wie können wir den mechanistischen Anteil der Problemlösung an die Maschine delegieren?
  • (♔) Typ-B-Problemlösekompetenz wie oben beschrieben

umorientiert werden. Dazu müssen auch die Qualitätskriterien und -verfahren angepasst werden. Der PISA-Test müsste dazu auch (⚽︎) und (♔) enthalten.

An der Leuphana-Universität bringt Frau Prof. Dr. Dörte Haftendorn im Mathematik-Grundlagenkurs „Mathematik für alle“ im ersten Semester nicht mehr das fehlerfreie und schnelle „Rechnen können“ bei, sondern

  • Umfassender Einsatz von Computerwerkzeugen in der Lehre von Mathematik
  • Systematiken der Mathematik kennen, einordnen können und wissen, welches Verfahren man für welchen Zweck einsetzen kann
  • Visualisieren und Entdecken von Mathematik

Z.B. macht sie umfassenden Gebrauch von Geogebra.
Dazu hat sie das Buch „Mathematik sehen und verstehen“ verfasst und alle ihre Geogebra-Konstruktionen und -Dateien zur freien Verfügung ins Internet gestellt.

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Für Geogebra gibt es auch ein eigene Art von Youtube genannt „Geogebratube„. Dort findet man auch ein Geogebra-Buch zu „Mathematik verstehen„:

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