Bewusstsein als neue Didaktik-Dimension

Bis 1995 war das Thema „Bewusstsein“ ein CKM (Career Killing Move, slang for a bad job/political action, Karriere beendende Entscheidung). Wer sich das Thema auf seine Forscherfahnen geschrieben hatte, war verloren. Er wurde von der Forschergemeinde nicht mehr ernst genommen und in die Esoterik-Ecke abgeschoben. Das hat sich seit 1995 grundlegend geändert. Hier hat offenbar ein Paradigmenwechsel nach Thomas S. Kuhn stattgefunden. Auch Francis Crick, der berühmte Nobelpreisträger und Entdecker der DNS (DNA), glaubte daran, dass die Rätsel des Bewusstseins in den nächsten 30 Jahren geknackt werden können. Besonders hilfreich sind dabei die neuen empirischen Befunde der Neurowissenschaften. Sie liefern verlässliche Daten, auf deren Grundlage Theorien zuverlässig falsifiziert werden können. Sie sind jedoch nur wichtige Datenlieferanten und empirisches Untersuchungsfeld. Die Theorien können auch aus anderen Wissenschaften kommen. Philosophie könnte möglicherweise eine Renaissance in seiner wissenschaftlichen Bedeutung erleben. Informatik – verstanden als eine Wissenschaft komplexer Systeme und Systemik und nicht nur als Techniklieferant – könnte hier auch eine wachsende Rolle spielen.

Während die Didaktik noch mit dem Transfer von Wissens- zur Kompetenzorientierung beschäftigt ist, kündigt sich am Horizont schon die nächste Welle von Veränderungen an: Die Hinzunahme einer weiterer Dimension zur Betrachtung didaktischer Tätigkeiten und Wirkungen, die Dimension des Bewusstseins.

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Dieses dreidimensionale Koordinatensystem der Bildung habe ich bereits in meinem Blogeintrag vom 8. Juli 2011 erläutert.

Das spiralige Modell der Bildung in dem Koordinatensystem aus Wissen („Was weiß ich?“) und Kompetenzen („Was kann ich?“) und Bewusstsein („Was sehe ich? / Was nehme ich wahr?“) könnte ganz praktische Auswirkungen im didaktischen Design und Curriculum haben: Wenn Studierende im ersten Semester z.B. die Vorlesung Algebra hatten, so werden sie in einem höheren Semester noch einmal mit dem gleichen Thema konfrontiert, indem man sie zu Tutoren für die Erstsemester-Übungen in Algebra ausbildet. Sie arbeiten dann mit dem gleichen Thema aus einer völlig anderen Perspektive, nämlich als Tutoren und Lehrende. Dadurch wird einerseits das Wissen in Algebra und die Kompetenzen des Rechnens und Beweisens vertieft und andererseits etliches bewusst, was im ersten Semester in der Einseitigkeit des Schülerdaseins untergegangen war und diesmal mit der neuen Rolle des Lehrenden die Chance hat, endlich wahrgenommen zu werden.

Mit dem neuen Thema „Bewusstsein“ stellen sich im Bildungssystem neue Fragen: Haben unsere Bildungseinrichtungen und -maßnahmen eigentlich zu mehr oder zu weniger Bewusstsein geführt? Welche Erweiterungen bewirken sie und welche (gewollten und ungewollten) Reduktionismen? Sind wir uns dessen bewusst oder ist es nur ein nicht beachtetes Nebenprodukt? Haben unsere Bildungseinrichtungen und -maßnahmen überhaupt Auswirkungen in der Bewusstseinsdimension oder ist dies zur Zeit Privatsache? Sind sich unsere Bildungseinrichtungen der jeweiligen Veränderungen im Bewusstsein bewusst, die sie zu verantworten haben?

Eine gute Einführung in die moderne Bewusstseinsforschung gibt Metzinger in seinen Mainzer Vorlesungen, erhältlich als DVD-Set:
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Interessant sind hier auch die Schilderungen Metzingers zum historischen Umfeld des Paradigmenwechsels 1995: In Deutschland begegnete ihm geschlossene Ablehnung. Nur durch die Fürsprache des Grandseigneurs der medizinischen Psychologie, Ernst Pöppel, wurde ihm Duldung gewährt. Bei seinem Forschungsaufenthalt in San Diego in Kalifornien wurde ihm dagegen Mut gemacht, den neuen Weg zu gehen.

Kurzgefasste Vorträge gibt es beim SWR: SWR2 Wissen: Aula, Das letzte Rätsel der Philosophie, Was ist das Bewusstsein, Teil 1 bis 3.

Was Niklas Luhmann für die Soziologie war, könnte Metzinger für die Bewusstseinsforschung in Deutschland werden. Was der Reduktionismus bei Luhmann war („Was ist Gesellschaft? Gesellschaft ist ein Codex von Regeln zur Wahrnehmungsreduktion.“), ist die Blindheit mit ihren vielen Varianten in der Bewusstseinsforschung:

Verblüffend ist das Video von Christopher Chabris und Daniel Simons. Allerdings ist es für die Wirksamkeit essenziell, dass das Auditorium wirklich auf die Aufgabe einlässt, die Anzahl der Pässe von weiß zu weiß in dem Video zu zählen. Ein wenig theatralisch ist das Video mit den Worten einzuführen, dass diese Aufgabe alleine wichtig sei. Die Aufmerksamkeit des Auditoriums ist vor Beginn des Videos auf die Aufgabe zu fokussieren. Viele Studierende in der Mainzer Vorlesung (siehe DVD) haben das nicht getan und daher auch den Effekt der Unaufmerksamkeitsblindheit nicht in diesem Experiment an sich selbst erlebt. Sie würden sich aber etwas vormachen, wenn sie darauf den Schluss ziehen würden, „besser zu sein“ oder „vor dieser Blindheit gefeit“ zu sein. Sie haben sich lediglich nicht auf die Aufgabe eingelassen.


Aufgabe: Zählen Sie die Anzahl der Pässe von weiß zu weiß. Erst danach Erläuterungen lesen.

Wer hat gut gezählt, war aber ansonsten blind?

(Oh, welche Symbolik in dieser Fragestellung! )

Experimente mit diesem Video haben ergeben, dass 90% der Probanden, die gut gezählt haben, ansonsten blind waren.

In dieser Symbolik stellt sich für unser Bildungssystem die Frage, was denn das Bildungsziel sein soll: etwa nur gut zählen zu können?

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