Gunter Dueck kommt in seinem Buch „Das Neue und seine Feinde“ zu dem Schluss, dass Innovation viele Feinde hat und bekämpft wird. Das ist offensichtlich eine Überspitzung, denn die meisten Menschen nehmen die Annehmlichkeiten der Innovationen gerne an (bis auf Minderheiten, z.B. Amish). Die Beziehung der Gesellschaft zur Innovation ist jedoch subtiler: Sie ist nicht von Feindschaft, sondern von Unbewusstheit, Unkenntnis und einer Art „Fremdeln“ geprägt. Dies gilt besonders für das Digitale, Virtuelle, Computerunterstützte, „Cloudige„, Glasfaservernetzte, Globale, Virtuelle, Unfassbare…
Das Unverständnis beginnt mit falschen oder irreführenden Begriffen. Die Informatik ist voll von falschen oder irreführenden Begriffen. Viele Informatiktexte sind für Sprachwissenschaftler und Philosophen ein furchtbares Kauderwelsch voll mit Verwechslungen, Kategorienfehlern, mangelnder begrifflicher Trennschärfe, ja noch nicht einmal die Wahl der Sprache selbst ist eindeutig: Meist handelt es sich um „Denglisch“, einer unsystematischen Mischung aus Deutsch und Englisch, die sich leider auch nicht abstellen lässt: Das Innovationstempo ist mittlerweile so hoch, dass die Prägung und gesellschaftliche Verbreitung deutscher Übersetzungen nicht mehr Schritt halten kann. Innovation ist global geworden.
Meist werden die Inhalte des Digitalen als „virtuell“ bezeichnet, um sie zu dem „Realen“ der physischen Welt abzugrenzen, so als ob sie nichts Reales hätten. Das ist irreführend, denn die Inhalte des Digitalen sind genauso real oder virtuell wie Gedanken, Abstraktionen, Glaubenssätze, Menschenbild, Weltbild oder Geld.
Es gibt Facebook-User mit Tausenden Facebook-„Freunden“, aber niemand hat in der physischen Welt Tausende von Freunden. Mit diesem Argument wird gegen Facebook polemisiert, anstatt die Begriffe zu hinterfragen: Vielleicht ist mit Facebook-„Freunden“ etwas anderes gemeint als mit „Freundschaft“ in der physischen Welt? Vielleicht entstehen hier neue soziale Phänomene, die nur zufällig mit den gleichen Begriffen belegt wurden, weil wir noch keine besseren haben? Warum sollte das Digitale das Physische originalgetreu abbilden wollen, anstatt etwas ganz Neues zu kreieren?
In seinem Buch „Das halbwegs Soziale“ kritisiert Geert Lovink grundsätzlich die Innovation der sozialen Netzwerke im Web 2.0 und hinterfragt, ob sie das Prädikat „sozial“ überhaupt verdienen. Wenn man den Begriff „sozial“ in herkömmlichen Sinne meint, sicher nicht. Weil sich aber die sozialen Netzwerke „sozial“ nennen, lädt das zum Polemisieren gegen sie ein, anstatt der langsam entstehenden digitalen Gesellschaft (siehe BMBF-„Wissenschaftsjahr 2014 – Die digitale Gesellschaft„) zu erlauben, neue Formen des Sozialen zu entwickeln. Die Sozialwissenschaften hängen noch der Illusion an, dafür theoretische Grundlagen einer „reflexiven Modernisierung“ entwickeln zu können (siehe „Neue Formen sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion„). Leider fehlt ihnen häufig das technologische Basiswissen und Visionen innovativer Einsatzszenarien: Sie wissen nicht und können sich nicht vorstellen, was sonst noch alles machbar ist. Die gesellschaftlichen Veränderungen sind so tiefgreifend, dass sie an fast allen „Ordnungsmodellen des Sozialen“ nagen (ebd). Der durch Technologie induzierte gesellschaftliche Umbruch erfordert auch eine Neuorientierung der Wissenschaften. Gunter Dueck sieht in Unternehmen ein „Immunsystem, das jede neue Idee zunächst wie eine Störung behandelt.“ Das gilt für alle Systeme, auch für das Wissenschaftssystem, siehe z.B. Dan Shechtman und mein Blog-Eintrag „Lernen als Fixieren und Lösen“.
„Die Gedanken sind frei“ sagt der Volksmund. Diese Sichtweise vergisst die Realität der Gedanken, die sich spätestens im induzierten Handeln und dessen Konsequenzen zeigen.
Wie virtuell ist eigentlich Traum? Im Traum werden vom Körper auch Hormone ausgeschüttet, so dass Traum durchaus eine physische Komponente hat. Auch Träume können Handeln induzieren und haben daher auch eine Realität.
Dabei hat die Gesellschaft durchaus schon Erfahrung mit „Virtualisierung“, ja sie kann sogar auf jahrtausendealte Erfahrung zurückschauen: Geld ist eine Virtualisierung von Handelswerten, spätestens seit es Papiergeld gab. Der gesellschaftliche Prozess seiner Einführung dauerte Jahrhunderte mit vielen Errungenschaften und Katastrophen. Heute „fremdelt“ die Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr mit Geld: Seine Virtualität wird gar nicht mehr wahrgenommen. Im Gegenteil: Für Unternehmer, Manager, Betriebswirte und Volkswirte sind Finanzen zum Inbegriff der Realität geworden. Daran wird gemessen, wie gesund ein Unternehmen, eine Organisation oder gesellschaftliche Gruppen sind: „Realität ist, was am Ende auf dem Konto liegt.“, obwohl es sich nur um Bits und Bytes im Computer der Bank handelt.
Früher war Innovation ein jahrhundertelanger Prozess. Heute überschlagen sich viele parallele Innovationen, so dass kein Mensch mehr imstande ist, auf allen Gebieten auch nur die wichtigsten Innovationen zu kennen, die man in unserer Gesellschaft kennen muss, um an ihr angemessen teilhaben zu können. Es gibt zu viele parallele Innovationen, die ein gesellschaftlichen Ausmaß haben. Für diese neue entstandene massive Innovationsparallelität gesellschaftlichen Ausmaßes haben wir weder Erfahrungen noch Theorie. Nicht einmal passende Vokabeln stehen uns zur Verfügung.
Das liegt auch am rekursiven Wesen der Informatik als Wissenschaft der Abstraktion und des Automatisierens. Man kann mit ihr schlicht alles abstrahieren und automatisieren, auch Innovation, auch Vergesellschaftlichung von Innovation, auch Innovationsautomatisierung und Innovationsautomatisierungsinnovation, … ad infinitum. Der letzte Schritt der Informatik zur Erleichterung der Innovation war der Schritt in die Cloud: Jetzt kann im Prinzip jeder Mensch mit einer cleveren Idee die Gesellschaft verändern, ohne selbst dafür eine eigene globale Infrastruktur aufbauen zu müssen. Das Schwere der Industrialisierung ist endgültig überwunden. Es lebe die Leichtigkeit.
Stephen Hawking sieht daher eine Singularität auf die Menschheit zukommen, die die Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen destabilisiert: Man tritt eines Tages aus seinem Haus, versteht die Welt nicht mehr und kann an ihr nicht mehr aktiv teilhaben, weil die Gesellschaft scheinbar plötzlich neue Technologien benutzt und sich dabei auf neue Normen und Regeln festgelegt hat, ohne dass man den Prozess seiner Einführung bewusst miterlebt hätte. Alle leben danach und man selbst hat es nicht mitbekommen. Man fühlt sich fremd in dieser „Realität“.
Man glaubt, die Welt nicht mehr zu verstehen. Dieser Effekt tritt immer früher ein: Die Leute, die sich mit dem Slogan „Das ist nicht mehr meine Welt!“ von einer aktiven Teilhabe an unserer Gesellschaft verabschieden, werden immer jünger. Das Eintrittsalter für Innovationsabwehr oder -fremdeln sinkt rapide. Dieser gesellschaftliche Effekt verstärkt demographische Veränderungen, so dass eine Gesellschaft schneller zu altern scheint, als die Zahlen hergeben.
„Goodbye, Lenin!“ ist ein Film, der diesen Innovationsschock anhand einer Mutter erzählt, die vor der Wende ins Koma fiel und nach der Wende wieder aufwacht. Dazwischen lag ein ganzes Jahr. Der Film ist gut erzählt, gehört zu den 3 besten DDR-Filmen und lässt gut nachempfinden, wie sich ein Innovationsschock anfühlt.
Vielleicht ist es auch ein Innovationsschock für Bürger der ehemaligen DDR, dass in diesem Blog ein „Prof. Kaul“ schreibt. Unter „Prof. Kaul“ kannten sie bis zur Wende Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul (*21. Februar 1906 in Posen; †16. April 1981 in Ost-Berlin, bekannt aus der DDR-Fernsehserie „Fragen Sie Prof. Kaul“), ein deutscher Jurist, Hochschullehrer, Schriftsteller und Chefideologe der DDR, siehe Wikipedia. Mit ihm ist der Autor dieses Blogs weder verwandt noch verschwägert noch ideologisch verbunden, sondern hat erst über Google von ihm erfahren.