Lernen als Fixieren und Lösen

Lernen wird zu häufig als (1.) Fixieren und (2.) zu selten als Lösen verstanden.

(1.) Lernen wird zu häufig als Auftrag zur Fixierung verstanden:
Begriffe und Verstehensstrukturen werden gelernt,
d.h. im eigenen Denkraum reproduzierbar fixiert.
Prüfung ist dann der Test, ob erfolgreich fixiert wurde.
Methoden werden antrainiert und als Gewohnheit fixiert,
um sie in der Prüfung fehlerlos reproduzieren zu können.
Das Lernen wissenschaftlichen Arbeitens ist in dieser Denke
in erster Linie die Disziplin der Einhaltung von fixierten Regeln,
die Fixierung auf richtiges Zitieren und Einhalten von fixierten Formalia.

(2.) Lernen wird zu selten als Lösen verstanden,
d.h. Lösen von alten Verhaltensmustern, Gewohnheiten,
Methoden, Selbstverständnis, Selbstbild, Weltbild und sonstigen Vorurteilen.
Das Lernen wissenschaftlichen Arbeitens
bedeutet auch Lösen von Alltagssprache und -verhalten mit ihrer
Mehrdeutigkeit, Emotionalität, Vorurteile, Voreingenommenheit, Polemik
und Andeutungen zwischen den Zeilen.
Um wissenschaftliche Texte schreiben zu können,
muss man sich davon lösen und lernen,
neutral, ehrlich, vorurteilsfrei, sachlich,
eindeutig und konsistent zu bleiben.
Ferner ist Vollständigkeit anzustreben,
also alles zu explizieren, was ausgesagt werden soll,
alles in Begriffe, Thesen und Sätze zu gießen,
was gesagt werden kann.

Genügend große Systeme haben Fixierungen.
Diese Fixierungen können gewollt
und Grundlage sein für alles was darauf aufbaut.
Sie können aber auch ungewollt, unbewusst existieren
als Haltung, Selbstbild, Weltbild, Gewohnheit, Methode, …

Wissenschaftliche Sozialisation heißt
ein Teil der wissenschaftlichen Community zu werden,
d.h. ihr Wissen und ihre Methoden,
ihr Weltbild und Selbstverständnis zu lernen,
um schließlich selber produktiv zu werden
und eigene Beiträge zu verfassen.

Die wissenschaftliche Community kann
als System aber auch selbst in Fixierungen stecken.
Dann ist es immer wieder die Leistung von Einzelgängern,
die voreingenommene Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen
vom Gegenteil zu überzeugen.
Das ist z.B. Einstein gelungen mit seiner Relativitätstheorie
oder Dan Shechtman, der Entdecker der Quasikristalle.
Beide mussten das Außenseiterdasein und
die Verhöhnung durch ihre Kollegen jahrzehntelang aushalten.
Zitat Wikipedia zu Dan Shechtman:
Diese Entdeckung wurde lange kritisiert: „Es gibt keine Quasikristalle, nur Quasi-Wissenschaftler“ sagte der 1994 verstorbene Chemie-Nobelpreisträger Linus Carl Pauling.[5] Der Leiter von Shechtmans Forschungsgruppe empfahl ihm, noch einmal die Lehrbücher zu lesen, und drängte ihn daraufhin, die Gruppe zu verlassen, um sie nicht zu blamieren.[6] Später wurden Quasikristalle auch von anderen Forschern gefunden.[7][2] Im Jahr 2011 erhielt Shechtman den mit zehn Millionen Schwedische Kronen (ca. 1,1 Millionen Euro) dotierten Chemie-Nobelpreis.[6]
Zum Thema „Verhöhnung von Einstein durch seine Zeitgenossen“
besuche man das virtuelle Museum „Albert Einstein – Ingenieur des Universums„.
In der Wissenschaftstheorie hat Thomas S. Kuhn den Begriff „Paradigmenwechsel“ geprägt.
Bekannt ist auch die „Kopernikanische Wende„,
weg von der Vorstellung, der Mensch stehe im Mittelpunkt des Universums,
die in manchen Köpfen heute immer noch nicht angekommen ist.
Fixierungen können also jede wissenschaftliche Beweisführung überdauern.
Aufklärung und Wissenschaft sind keine Garantie für die Freiheit von Fixierungen.

Auch in der noch jungen Informatik-Geschichte
gab es Paradigmenwechsel, z.B. von der Codierung zur Modellierung:
So erzählt John Guttag, der Erfinder abstrakter Datentypen (ADTs),
von seinem Promotionskolloquium, in dem sein Doktorvater ihn fragte,
wozu man ADTs denn brauchen würde: Es gäbe doch FORTRAN
mit seinen Datentypen INTEGER, FLOAT, STRING und ARRAY.
Damit könnte man doch alles machen und daher seien zusätzliche
Datentypen überflüssig.
Die Argumentation ist pseudo-korrekt,
weil es einerseits stimmt, dass sich in den primitiven Datentypen
alles codieren lässt.
(Mit der Methode der Gödelisierung wird ALLES in Integer codiert.
Dann braucht man nicht einmal String, Float oder Array…)
Andererseits hatte der Doktorvater
die Notwendigkeit höherer Abstraktionsformen
völlig unterschätzt.
Noch heute spricht man von „Codieren“ statt „Entwickeln“
für die Tätigkeit der Implementierung,
was den vollzogenen Paradigmenwechsel ignoriert,
als ob er nie stattgefunden hätte.

Um den Paradigmenwechsel gesellschaftlich zu verankern,
sollte man vielleicht die Berufsbezeichnung wechseln
von „Programmierer“ zu „Systemgestalter“.
Der wissenschaftliche Diskurs ist in vollem Gange,
siehe z.B. Methodendiskussion bei Springer.

Die Fixierungen der Informatik als recht junge Wissenschaft
sind noch nicht erforscht.
Teilbereiche der Informatik haben die Paradigmen der Mathematik übernommen,
andere die des Ingenieurwesens.
Was wissenschaftlich publiziert wird, ist nicht immer ein Gewinn für Praktiker.
Inwieweit sich Wissenschaft und Realität entfremden,
ist immer wieder auf den Prüfstand der Anwendbarkeit zu stellen
nach Einstein: „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.“

Was die Informatik als Wissenschaft ausmacht, ist noch nicht klar.
Neuere Versuche der Präzisierung sind „Design Science„, „Web Science„, „Science 2.0„…

Was machen Informatiker eigentlich? Sie automatisieren, entwerfen, bauen, implementieren, erforschen, messen, analysieren, kommunizieren, …

  • Automaten
  • Werkzeuge
  • Gebrauch von Werkzeugen
  • Systeme
  • Strukturen
  • Prozesse
  • Organisation
  • Gesellschaft
  • Technik
  • Digitalisierung

Immer wenn man glaubt, die Informatik als Wissenschaft erfasst zu haben, entwischt sie einem wieder, weil sie auch das Erfasste wieder automatisieren, entwerfen, bauen, erforschen, messen, analysieren, kommunizieren, … kann: Informatiker bauen nicht nur Automaten, sondern automatisieren auch den Automatenbau. Das wäre dann der Automatenbauautomat.

Leider bleibt die Informatik aber auch dabei nicht stehen. Denn sie automatisiert auch wiederum den Bau von Automatenbauautomaten. D.h. aufgrund der Selbstbezüglichkeit besteht das Potenzial, unendlich weiter zu machen. Es gibt keine Grenze.

Diese Art der Unendlichkeit macht Informatik als Wissenschaft besonders. Sie hat das Zeug, ALLES, auch Wissenschaft, auch Gesellschaft, auch Fixieren und Lösen selbst zu thematisieren und zu revolutionieren, zu verwissenschaftlichen und gesellschaftlich mit neuer Technologie und Begrifflichkeit umzusetzen.

Aus einer Fixierung kann man niemanden herausholen.
Da Fixierungen „selbstverschuldet“ sind, kann sich jeder nur selbst daraus lösen.
Das gilt für Menschen ebenso wie für Organisationen und für Gesellschaft.

(Dabei ist „selbstverschuldet“ in dem gleichen Sinne zu verstehen
wie beim Ball, der die Hand nicht verlässt, solange man sie nicht öffnet.)
wpid-imgres-2014-01-24-07-16.jpg

Niklas Luhmann: „Was ist Gesellschaft?
Gesellschaft ist ein Codex von Regeln zur Wahrnehmungsreduktion.“
Gesellschaft, Organisationen und Systeme sind nicht nur Reduktionen,
sondern auch Handlungsplattformen,
gewissermaßen Leitplanken für Lern-, Entwicklungs- und Lebenswege,
Ermöglicher ebenso wie Verhinderer.
Sie können die Chancen für Erkenntnis, Löseprozesse und Lösungen erhöhen,
aber leider auch verringern.

Lernende da abzuholen, wo sie gerade fixiert sind,
kann auch ein Fehler sein:
Man bestätigt und verstärkt die vorhandene Fixierung
und verhindert, dass Lernende selbst aktiv werden,
sich auf den Weg machen und sich vom alten Standpunkt lösen.

Menschen, die auf Materialismus fixiert sind,
benötigen für alle Verstehensprozesse handfeste, konkrete Beispiele.
Sie werden nicht lernen, sich davon zu lösen,
wenn man sie weiter mit Materialismus füttert.

Es gilt beides zu sehen:

  • Fixieren und Lösen
  • Lernen und Verlernen
  • Festhalten und Loslassen
  • Aufbauen und weitergehen
Dieser Beitrag wurde unter Didaktik, Informatik, Lehre, Studium abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.