3 Ebenen-Modell des Lernens

Im Informatik-Spektrum Band 35, Heft 4, August 2012, verweist Prof. Dr. Ulrich Furbach in seinem Artikel „Turing und die künstliche Intelligenz“ auf die Theorie über „Postbiotischen Bewusstseins“ des Mainzer Philosophen Prof. Dr. Thomas Metzinger, dass man einem Wesen erst dann wirkliche Intelligenz zubilligen könne, wenn es eine eigene Theorie des Bewusstseins entwickelt und vertritt. Damit soll natürlich hinterfragt werden, ob Maschinen denken können.

Gleichzeitig kann man die Frage auch an Menschen richten und als Kriterium für das Vorhandensein deren Intelligenz einsetzen.

Das Gehirn ist ein neuronales Netz, dem es egal ist, wie es verwendet wird. Grob lassen sich drei Ebenen der Verwendungsarten unterscheiden:

1. Konditioniertes
2. Theoriebildung (Selbstbild, Weltbild)
3. Unkonditioniertes

Ebene 1 umfasst alles Konditionierte, Programmierte, Automatenhafte. Der Automat spult sein Programm ab. Antrainierte Aktions- und Reaktionsmuster werden abgerufen. Die Schnelligkeit, mit der dies erfolgt, ist von großem Vorteil z.B. beim Autofahren. Autofahren wurde antrainiert. Lernen auf Ebene 1 ist wie Download von Programmen. Der Automat wird mit Automatismen gefüttert. Viele Lerntechniken beschäftigen sich nur damit, wie dieses Füttern mit Automatismen noch schneller, noch zuverlässiger vonstatten gehen kann. Didaktik ist hier nichts weiter als Fütterungsoptimierung. Studierende, die ihr Studium optimieren, landen auch von selbst beim Klausurlernen und Bulimielernen. Das Optimierungsziel ist die Fütterungsgeschwindigkeit und die Minimierung des Aufwands dafür, um mehr Zeit zu haben. Wird diese gewonnene Zeit auch wieder nur für Download benutzt, ergibt sich in der substanziellen Verwendungsart des Gehirn kein Unterschied.

Dieses Sosein, dieser Modus operandi, fühlt sich hohl und leer an: Da ist keinerlei Bewusstheit. Der Automat spult sein Programm ab, völlig seelenlos. Das fühlt sich sinnlos an und macht krank: Burnout ist ein Symptom heute schon bei Studierenden, die unter ihrer selbst verordneten Sinnlosigkeit leiden.

Viele Automatismen sind evolutionsbedingt und Millionen Jahre alt, so z.B. Todesangst und Überlebenswille. Lässt man diesen Programmen völlig unreflektiert und unbewusst freien Lauf, so ergibt sich ein ungebremstes Ausleben der Automatismen des Überlebens, Haben-wollens und Sichern-wollens, die mit freiem Willen nichts zu tun haben.

Menschen, die diesen Zustand nicht reflektieren und sich mit ihren Automatenanteilen abgefunden haben, sagen häufig „Ich bin halt so“. Das ist ein Abfinden mit den eigenen Automatismen. Dann werden die Ebenen 2 und 3 nicht wahrgenommen.

Ebene 2 umfasst Reflektieren und die eigene Theoriebildung. Man konstruiert sich sein eigenes Weltbild und sein eigenes Selbstbild. Hier geht es um Verstehen und Erklären können.

Wie die Neurowissenschaftler festgestellt haben, kommt das Gefühl „Ich habe mich entschieden“ immer 50 Millisekunden, nachdem der Automat die Entscheidung bereits getroffen hat. Es ist eine Gehirnaktivität im Nachhinein. Das Gefühl, aus freiem Willen zu handeln, beruht also auf Autosuggestion. In dem Selbstbild gibt es ein Ich-Modell, das nicht den gemessenen Tatsachen entspricht.

Die Erklärungsmanie, alles, was geschieht mit dem eigenen Weltmodell abgleichen zu müssen und Erklärungen zu finden, die ins bisherige Bild hinein passen bzw. das Weltmodell zu erweitern, hat durchaus seinen Sinn: Dadurch wird das Weltmodell konsistent und aktuell gehalten. Dies ist ein großer Überlebensvorteil, den die Evolution belohnt hat. Gleichzeitig besteht die Gefahr eines Schubladen-Denkens, das nur Phänomene erlaubt, die in die Schubladen hinein passen. Die Theorie erzeugt Filter, die die Wahrnehmung reduzieren. Das Weltbild erzeugt eine Fokussierung auf reduzierte Aspekte und blendet andere aus.

Ebene 2 hat sich erst später in der Evolution gebildet: Sie ist dem Neokortex zuzuordnen. Es wird als große Errungenschaft gefeiert. Wissenschaft wird als die große Errungenschaft der Menschheit angesehen. Dabei wird ignoriert, dass Wissenschaft auch auf manchen Gebieten komplett versagt, insbesondere wenn es um den Menschen selbst geht. Ebene 2 ist sehr kopflastig, intellektuell. Ob Psychologie wirklich eine Wissenschaft ist, bleibt weiterhin umstritten. Woody Allen hat als Großstadt-Neurotiker eindrucksvoll gezeigt, dass man täglich auf der Couch beim Psychiater seine Automatismen durchdeklinieren kann, ohne dass sich auch nur das Geringste im Alltag verändert: Er ist und bleibt der hoffnungslose Großstadt-Neurotiker. Der Woody-Allen-Effekt ist das Unvermögen der Ebene 2, ändernd auf die Ebene 1 einzuwirken. Die beste Theorie hilft in der Praxis nicht im Geringsten. Das gilt im Kleinen wie im Großen: Die Menschheit hat erkannt, dass sie den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Die Theorie wurde verstanden, jedoch ohne Auswirkungen auf die Praxis.

Lernen auf Ebene 2 ist die Bildung von Theorien, Modellen, Tiefenstrukturen, Erklärungsmodellen und die Kompetenz, selbstständig diese Theorien bilden zu können. Man muss selber denken, reflektieren, sich seine eigene Erklärungen bilden und mit der Realität abgleichen. Das ist ein aufwändiger Prozess, der wesentlich mehr Zeit, Aufwand und Energie erfordert, als der Download auf Ebene 1. Das Wirtschaftlichkeitsprinzip wird daher immer Ebene 1 bevorzugen. Mit Downloads auf Ebene 1 Kompetenzen der Ebene 2 vorzutäuschen ist jedoch Betrug. Dieser Betrug ist leider häufig mit Klausuren nicht unterscheidbar. Daher fällt der Betrug zunächst nicht auf. Erst später, wenn im Berufsleben Ebene 2 verlangt wird, muss der Kompetenzerwerb der Ebene 2 nachgeholt werden.

Die Zeit der Aufklärung war ein Aufblühen der Ebene 2. Kant formulierte es so „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Aufgrund der gestiegenen Komplexität der Welt und ihrer Theorie glaubt man heute, keine Zeit mehr für die Ebene 2 zu haben: Der Dozent befürchtet, seinen Stoff nicht durch zu bekommen. Der Student befürchtet, zur Klausur nicht genug gelernt zu haben. Das führt beidseitig zur furchtgetriebenen Regression auf Ebene 1.

Reflektieren und Theoriebildung sind Aktivitäten im Nachhinein oder Vorhinein, nicht jedoch im Moment des Augenblicks, im Hier und Jetzt. Reflektieren und Theoriebildung unterscheiden sich daher grundlegend von wacher Aufmerksamkeit, ungeteilter, offener Zuwendung und klarer Bewusstheit für das, was gerade im Augenblick anliegt. Das ist die Ebene 3, die sich deutlich von den beiden anderen Ebenen unterscheidet. Beide Ebenen 1 und 2 können störend auf Ebene 3 wirken: Automatismen ebenso wie der Reflexionsprozess und Theoriebildung können der Lebendigkeit, Spontaneität und Authentizität des Augenblicks abträglich sein. Lernen auf Ebene 3 ist die immer frische Neuentdeckung. Ein Anfängergeist geht unbedarfter mit dem Leben um und ist nicht so mit Downloads und Theorien belastet wie ein erfahrener Mensch. Daher lieben wir so die kleinen Kinder, die noch völlig spontan und authentisch sind. Die Dozenten mit ihren jahrelang eingeschliffenen Gewohnheiten sind hier nicht unbedingt Vorbild für Lernende. Beide gemeinsam können jedoch durch Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zum lebendigen Austausch miteinander immer wieder frisch und neu gelangen.

Dieses Modell der 3 Ebenen ermöglicht Differenzierungen von Ausprägungen von Authentizität, Kreativität, Sucht und Willen:

Bezüglich der Spontaneität und Authentizität gibt es außerdem eine Prä-Trans-Verwechslung, d.h. die Ebenen 1 und 3 werden vermischt und Ebene 2 übersprungen: Das unreflektierte, spontane Ausleben der zufällig entstandenen Automatismen auf Ebene 1 kann oberflächlich gesehen genauso authentisch wirken wie die ungeteilte, offene Zuwendung auf Ebene 3. „Ich bin halt so“ steht genauso spontan neben Offenheit und klarer Bewusstheit.

Kreativität kann verschiedene Quellen haben: Beim Brainstorming wird das wilde, spontane Kombinieren auf Ebene 1 geübt (Mutation). Aus der Vielfalt wird dann auf Ebene 2 das Sinnvolle ausgewählt (Selektion). Es handelt sich also um das Darwin´sche Evolutionsmuster Mutation und Selektion. Die Kreativität auf Ebene 3 entsteht hingegen aus der ungeteilten, offenen Zuwendung, direkt, voll bewusst und klar.

Sucht gibt es nur auf den Ebenen 1 und 2, nicht jedoch auf der Ebene 3. Auf Ebene 1 ist Sucht ein unreflektiertes, ungebremstes Ausleben der Automatismen. Ein völlig seelenloses Programm des Überlebens, Haben-wollens, sichern-wollens ist das Ausführungsorgan dieser Sucht und wird selber nicht gesehen. Da ist auch kein Mensch, mit dem man sprechen könnte. Das würde mindestens Ebene 2 voraussetzen. Die Sucht hat sich verselbstständigt.

Auf Ebene 2 gibt es die Denksucht, Erklärungssucht, Schubladensucht, die mit höchster Priorität alles Geschehen in die vorhandenen Schubladen pressen will und dadurch den Augenblick verpasst. Es entsteht ein Gefühl des Getrenntseins, immer knapp daneben und nie wirklich ganz da.

Die Sucht auf den Ebenen 1 und 2 konnten entstehen, weil ein grundlegendes Gefühl der Unvollständigkeit, Falschheit, Hunger nach dem Echten entstehen muss, solange man Ebene 3 vergessen hat.

Hat der Mensch einen freien Willen? Auf der Ebene 1 sicher nicht. Ebene 2 erlaubt schon mehr Freiheitsgrade. Denken und Handeln sind jedoch zweierlei und leider geschieht beim Schritt zum Handeln häufig ein automatisiertes Umschalten auf Ebene 1. Das Erleben des Woody-Allen-Effekts könnte man auch als die dunkle Nacht des Willens bezeichnen, ein Erleben der eigenen Machtlosigkeit. Dies gilt individuell ebenso wie kollektiv: Die Menschheit weiß, was richtig wäre, will dies auch, aber bekommt es einfach nicht hin. Dies offen zuzugeben, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, wie man weiß.

Erst Ebene 3 offenbart etwas, was man durchaus mit geistiger Freiheit bezeichnen könnte.

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