Parallele zwischen der Evolution des Gehirns und der Gesellschaft

Wir sehen eine Parallele zwischen der Evolution des Gehirns und der Gesellschaft.

Das Gehirn ist ein Produkt der Evolution und hat seinen Trägern zunächst einen alternativen Ansatz zur Überlebenssicherung (neben Kraft und Größe) beschert (siehe auch „Suzana Herculano-Houzel: Was ist so besonders am menschlichen Gehirn?“). Als Nebenprodukt ist das Denken entstanden, ein Denken, das alles als Denk-Gegenstand wählen kann, sogar sich selbst. Die Selbstbezüglichkeit hat dann Ausmaße angenommen, die mit dem Ursprung (dem Überlebensvorteil) nichts mehr zu tun hat. In gleichem Maße ist das Gehirn gewachsen und hat neue Dimensionen der Komplexität ermöglicht.

Die Gesellschaft war ursprünglich eine Vernetzung der Individuen ebenfalls zum Zwecke der Überlebenssicherung. Als Nebenprodukt ist die Kommunikation entstanden. Kommunikation ist universell und kann alles als Kommunikationsgegenstand wählen, sogar sich selbst. Die Selbstbezüglichkeit hat dann Ausmaße angenommen, die mit dem Ursprung (dem Überlebensvorteil) nichts mehr zu tun hat. In gleichem Maße ist die Kommunikation gewachsen und hat neue Dimensionen der Komplexität ermöglicht.

Für die Rolle des Individuums in der Gesellschaft gibt es drei große Kategorien:

1. Konsumieren: Ich bin Konsument. Konsumieren macht mich glücklich, zumindest glaube ich das. Das Wirtschaftssystem ist zufrieden, wenn sie möglichst mit dummen Konsumenten zu tun hat, die zuverlässig immer das Gleiche konsumieren. Das macht den Produktionsprozess ebenfalls zuverlässig und optimierbar.

2. Funktionieren: Ich bin ein Rädchen im Getriebe der Gesellschaft. Das Wichtigste für mich ebenso wie für die Gesellschaft ist, dass ich funktioniere. (Wenn nicht, dann nennt man das Burn-out oder Krankheit.)

3. Klarlernen: Ich lerne, damit mir etwas klar wird. Wenn es mir wirklich klar ist, vergesse ich es nie wieder. Es ändert meine Arbeit, meine Perzeptionsgewohnheiten, meine Art zu denken, zu handeln und zu leben. Das ist ein großer Unterschied zum Bulimie-Lernen nur für die nächste Klausur. Nach der Klausur vergesse ich das Gelernte sehr schnell.

Die Hauptbeschäftigung der Gesellschaft wird Lernen sein. Die Lernwirtschaft wird 2017 die Technologiewirtschaft überflügeln. Dann werden wir Menschen insgesamt mehr für Lernen ausgeben als für die Beschaffung von Technologie: Computer werden immer billiger, Lernen jedoch nicht. Lernen nicht als Replizieren von Wissen oder Kompetenzen, denn das können Computer besser als Menschen, sondern Lernen als Hervorbringen einer neuen Qualität, individuell ebenso wie gesellschaftlich.

Es gibt viele Versuche, Lernen ebenfalls als eine Form von Konsum abzutun. Das wäre so schön, wenn man die Lernindustrie wie die Konsumindustrie aufbauen könnte. Dann könnte man die Lernindustrie ebenso optimieren wie Produktions- und Konsumprozesse. Geht aber nicht. Lernen ist intrinsisch von anderer Natur als das Produzieren und Konsumieren von industriellen Produkten.

Ebenso wird Lernen auch oft auf Funktionieren reduziert (z.B. Behaviorismus): Wenn ich richtig und fehlerfrei funktioniere und das richtige Input-/Output-Verhalten zeige, dann ist das ein Beweis dafür, dass ich gelernt habe, unabhängig von meinem subjektiven Gefühl, ob es mir klar ist. Das ist der andere häufige Reduktionismus.

In Klausuren müssen wir beweisen, dass wir fehlerlos funktionieren. Angeblich sei das der Beweis, das wir gelernt hätten. Stimmt aber nicht. Nach der Klausur vergessen wir das Gelernte viel zu schnell. Das gilt heute mehr denn je. In seinem Vortrag „Hochschullehre digital – Erfahrungen vom Seminar bis hin zum massiven Kurs“ beklagt Prof. Dr. Jörn Loviscach, Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik, Fachhochschule Bielefeld, dass spätestens im vierten Semester sogar der Dreisatz vergessen wurde. Da stimmt doch etwas grundsätzlich nicht!

Behavioristisches Lernen ist offenbar ein irreführender Reduktionismus.

Klarlernen ist intrinsisch von anderer Natur als Konsumieren und als Funktionieren.

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