Kompetenzorientierung als neue Leitmetapher der Bildungswissenschaften wurde auf internationalen Tagungen von Erziehungswissenschaftlern und unterschiedlichen Fachdidaktikern mehrfach abgelehnt. Ungeachtet dessen wird die Bildungslandschaft in Deutschland massiv von führenden Verbänden und Institutionen in Richtung Kompetenzorientierung umorientiert. Wer hat nun Recht, die Erziehungswissenschaftler oder die Kompetenzorientierer? Nach der Diffusion der politischen Verantwortlichkeiten folgte eine Diffusion der Bildungskompetenz.
Der Bildungsdiskurs ist ziemlich diffus. Ein einfaches Schema soll einige wichtige Punkte klären:
Bildung in 3 Dimensionen
Die drei Dimensionen sind Wissen („Ich weiß, wie man schwimmt …“), Kompetenzen („Ich kann schwimmen …“) und Bewusstsein („Mir ist bewusst, dass ich beim Schwimmen zu hektisch atme …“). In diesem Schema sind Wissen, Kompetenzen und Bewusstsein wechselseitig potenziell unabhängig: Es kann vorkommen, dass man viel weiß aber es nicht kann und umgekehrt: Man kann etwas, es funktioniert, aber man hat kein oder nur wenig Wissen darüber und versteht es nicht so richtig. Wissen ist also keine Voraussetzung für Können.
Der Weg zur Kompetenz führt auch nicht notwendig über das Wissen: Ich kann schwimmen lernen auch völlig ohne vorherigen Theorieunterricht. Simples Ausprobieren und Training tut es manchmal auch. Kein Wissen, keine Reflexion, kein Bewusstsein – und dennoch habe ich schwimmen gelernt.
Bildung ist in diesem Schema eine Entwicklung, die (vereinfacht gesagt) bei einem Zustand des Unwissens, der Inkompetenz und Unbewusstheit anfängt und zu mehr Wissen, Kompetenz und Bewusstsein führt. Das soll erst einmal als Modell reichen.
Wissensvermehrung, Kompetenzanreicherung und Bewusstseinsinklusion sind nicht immer einfach und ohne Friktionen. Wohlbekannt sind Autobiographien von Wunderkindern (Hochbegabten) wie Yehudin Menuhin, die schon als Kinder enorm viel konnten, dann in der Pubertät einen völligen Zusammenbruch ihrer Leistungsfähigkeit erlebten und noch einmal von vorne anfangen mussten, um die Grundlagen zu lernen. Das Kompetenzniveau bricht unter manchen Umständen angesichts von zusätzlichem Wissen und Bewusstsein zusammen und muss unter anderen Umständen neu erlernt werden.
Im Diagramm entwickelt sich Bildung nicht linear, sondern auf Umwegen, spiralig. Krisen sind dabei häufig die Einleitung einer neuen Stufe des Wissens- und Kompetenzerwerbs. Es gibt keinen linearen Bildungsweg. Die Psychologie- Professorin an der Harvard University Ellen J. Langer spricht dabei von „Lernen auf Nebenwegen„. In unserem Beispiel bedeutet das, dass unser Bewusstsein unserer hektischen Kurzatmigkeit beim Schwimmen eine Krise darstellt, die das Potenzial in sich birgt, das eigene Schwimm-Wissen und die eigenen Schwimm-Kompetenzen kritisch zu hinterfragen, sachverständigen Rat einzuholen und die nächste Lernschleife einzuläuten.
Für Wissensvermehrung, Kompetenzanreicherung und Bewusstseinsinklusion gibt es bewährte Lehr- und Lern-Formate:
- Wissensvermehrung: Vorlesung, Literatur-Studium und -Recherche, Hausarbeiten, Abschlussarbeiten
- Kompetenzanreicherung: Übungen, Projekte, Hausarbeiten, Abschlussarbeiten
- Bewusstseinsinklusion: dialogische Formate, seminaristischer Unterricht, Reflexion des tatsächlichen Lern- und Bildungsstands, Gruppenfindungsprozesse, Reflexion der Gruppendynamik, Evaluation, Systemanalyse, Systemgestaltung, Thematisierung von Lernen lernen, Selbst- und Weltbild.
Z.B. sind in einer normalen Mathematik-Lehrveranstaltung mit 2 Stunden Vorlesung und 2 Stunden Übungen diese Formate wie folgt wieder zu finden:
- Wissensvermehrung: In der Vorlesung vermittelt die Mathematik-Professorin das grundlegende Wissen, indem sie es so klar wie möglich erklärt.
- Kompetenzanreicherung: In der Übung lernen die Studierenden, Probleme selber zu lösen und die eigenen Lösungen ihren Mitstudierenden zu erklären.
- Bewusstseinsinklusion: Im Dialog werden die Unklarheiten bewusst, Lücken erkannt und thematisiert, ebenso wie Lernverhinderer, Lernblockaden und Selbstbild und Weltbild werden kritisch hinterfragt.
Wissen kann in kopierter Form vorkommen ebenso wie Kompetenzen. Wissen kopieren geht durch Auswendiglernen, Kompetenzen kopieren geht durch Nachahmen. Wenn Musterlösungen auswendig gelernt werden, führt dies zur Vortäuschung von Kompetenzen. Die Produktion von Kopierautomaten kann man tatsächlich industrialisieren. Das ist Bewusstseinsexklusion und hat nicht mehr viel mit Bildung zu tun.
Bildung muss offensichtlich mehr enthalten als objektives Wissen und objektive Kompetenzen. Der Bezug zum Lern-Subjekt, zu seinem tatsächlichen Lern- und Bildungsstand muss hergestellt werden, wie dies auch in dialogischen Formaten im Präsenz-Unterricht geschieht. Das ist eine Art Subjektivierung und dem Objektivierungsdruck der Wissenschaften entgegen gesetzt.
Was sind die Lernformate im eLearning, die Bewusstseinsinklusion fördern? Wikis, Foren, Chats, Blogs, ePortfolio, Web 2.0, sofern sie dialogische Formate, Reflexion des tatsächlichen Lern- und Bildungsstands, Gruppenfindungsprozesse, Reflexion der Gruppendynamik, Evaluation und Weiterentwicklung, Systemanalyse und Systemgestaltung unterstützen. eLearning braucht eine Bildungstrajektorie, d.h. eine didaktische Zielgebung (didaktisches Design), wenn es zur Bildung in allen drei Dimensionen beitragen soll.