Wie wichtig sind Talking Heads in Video-Lectures?

wpid-PastedGraphic2-2014-11-20-06-54.pngCoursera
Coursera-Kurs „Arts & Culture Strategy“

Wie wichtig sind Talking Heads in Video-Lectures?
Darüber gibt es unterschiedliche Aussagen:
Eine Gruppe (A) sagt, das sei das Wichtigste.
Eine andere Gruppe (B) sagt, Talking Heads sind so unwichtig,
dass man sie neben den Folien und den Erklärvideos
weglassen könne. Der technische Aufwand für Talking Heads
ist enorm und sie bringen nicht den Informationsgewinn,
den man für guten Lernfortschritt benötigt.

Was ist nun richtig? (A) oder (B)?
Ein objektives „Richtig“ oder „Falsch“ gibt es offensichtlich nicht bei der Frage nach Talking Heads.
Es hängt von der Zielgruppe ab oder von persönlichen Präferenzen,
ob man sich auf den Menschen einlassen will oder eher auf die Sache.
Was soll im Vordergrund stehen, der Mensch oder die Sache?

zu (A): Die ideale Lehrperson verkörpert das was sie lehren will.
Sie bringt ihre Sichtweisen authentisch zum Ausdruck.
Begreift man die Ideen- und Gefühlswelt als eine Art Parallelwelt,
in die es einzutauchen gilt,
so helfen Talking Heads Studierenden, in die Parallelwelt der Lehrperson einzutauchen.
Wichtigster Faktor ist dabei die Authentizität.
Viele Menschen lernen über Spiegelneuronen.
Sie assimilieren sehr schnell Standpunkte, Sichtweisen, Ideen- und Gefühlswelten
mittels Empathie.
Erste Probleme tauchen dann bei den Übungen auf.
Wenn die Studierenden dann ohne die Hilfe der Lehrperson selbstständig eine Aufgabe lösen sollen,
fühlen sie sich aus der Parallelwelt heraus gerissen,
zurück geworfen in die eigene Ideen- und Gefühlswelt,
in der sich die zu erlernenden Problemlösekompetenzen zunächst noch nicht befinden.
Resultat sind Nachfragen.
In der Übungsphase haben die Studierenden plötzlich einen großen Bedarf,
sich bei der Lehrperson zu vergewissern.
Der Betreuungsbedarf ist entsprechend hoch.
Daher stellt sich die Frage,
ob das Spiegelneuronen-Lernen hier zweckmäßig ist.
Vielleicht erzeugte das Eintauchen in die Parallelwelt nur die Illusion,
etwas verstanden zu haben.
In der Übung zeigt sich dann, dass die Illusion einer harten Überprüfung nicht standhält.

Den Rückfrage-Bedarf kann man mit bewährten Mitteln in Grenzen halten,
z.B. mit „Frequently Asked Questions“ (FAQs).
Man beantwortet als Lehrperson nur Fragen,
die nicht bereits in den FAQs stehen.
Den Studierenden geht es aber gefühlsmäßig gar nicht um die Fragen,
sondern um die Rückverbindung zu der Parallelwelt und vertrauensvoll zur Lehrperson.
Wenn diese die Rückverbindungsgesuche ablehnt,
damit das Vertrauensverhältnis in Frage stellt,
fühlen sich manche brüskiert und abgelehnt.
Das erzeugt eine erste Frustration, die auch schon
einer erster Schritt zum Abbruch sein kann.

Grob gesprochen lernt man bei (A) mehr den Menschen als die Sache,
was ein erster Schritt sein kann, um sich der Sache zu nähern,
aber auch mit den geschilderten Fallstricken verbunden ist.

Das eLearning-Format „Talking Heads“ gibt es in verschiedenen Varianten:

  • Gesicht
  • Oberkörper
  • Nachrichtensprecher
  • 2 Nachrichtensprecher mit Rollenkonzept
  • Dialog in verschiedenen Varianten
    • Frage-Antwort-Wechsel
    • Gegensätzliche Positionen vertreten
    • Ideenaustausch und gemeinsame Exploration
  • Gruppendiskurs bis hin zum Seminar

(A) und (B) muss man nicht als Gegensatz behandeln. Viele eLearning-Formate behandeln beides als Ergänzung.
Das ist dann die Alternative (C), z.B. Lecturnity:

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Welche Kräfte verstärken die Vergeistigung?

Welche Kräfte verstärken die Vergeistigung?

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Zunächst: Warum stellt sich diese Frage?

Geist hat zwar den Drang zur Manifestation:
Z.B. bereitet die Realisierung einer Idee viel Freude.

Umgekehrt hat Manifestes jedoch nicht unbedingt den Drang zur Vergeistigung.
Im Gegenteil: Es gibt viele Kräfte, die das Manifeste fest, in sich gefangen halten,
z.B. durch Verwirrung, Verwechslung des Abbildes mit dem Original (siehe Platons Höhlengleichnis), Verwechslung von Spiegelung und Realität, alle Formen des Festgefahrenseins, z.B. durch Selbstbestätigung oder Ideologie, aber auch durch Tretmühlen, wie auch immer gearteten Hamsterräder, durch Automatisierung, Beschleunigung, Raserei, usw.

Vergeistigung ist dann eher ein Zufallsprodukt, ein Unfall oder das Produkt purer Erschöpfung in der Tretmühle, das mögliche Produkt von „Burnout“.

Daher ist die Frage nach dem für die Vergeistigung systematisch Förderlichen eine wichtige Frage, die man sich auch schon vor dem Burnout stellen sollte. Die Gesellschaft sollte Strukturen und Prozesse in ihren Bildungssystemen stärker verankern, so dass diese Frage zu jedem individuellen Bildungsweg gehört.

Folgende Kräfte sind bekannt, die Vergeistigung systematisch fördern:

  • Abstrahieren
  • Transzendieren (darüber hinaus gehen)
  • Bremsen, neudeutsch „Entschleunigen“ oder Aufhören („full stop„)
  • Explizieren des Impliziten
    • Erkennen und Verstehen der impliziten Ideologien, Welt- und Selbstbilder
  • Entwirrung und Erkenntnis
    • Erkennen und Verstehen falscher Welt- und Selbstbilder
    • Erkennen von eingefleischten Automatismen und Verstehen deren Ursachen
    • Erkenntnis der Wahrnehmungsreduktionsmechanismen (eigene und gesellschaftliche. Zu Letzteren Niklas Luhmann: „Was ist Gesellschaft? Gesellschaft ist ein Codex von Regeln zur Wahrnehmungsreduktion!“)
    • Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes
  • Refokussierung = Neujustierung des Wahrnehmungsfokus
  • Reidentifikation = Neujustierung der Identifikation

Folgende Leitfragen helfen dabei:

  • Warum-Frage
  • Was ist das Prinzip dahinter?
  • Was sind die Ursachen?
  • Welcher Codex von Regeln zur Wahrnehmungsreduktion liegt hier zugrunde?
  • Wohin geht meine / unsere Aufmerksamkeit?
  • Welches Weltbild / Selbstbild zeigt sich hier?
  • Was bin ich? Was sind wir?
  • Sinnfrage
  • Was führt darüber hinaus?

„Abstrahere“ ist die lateinische Wurzel des Wortes „Abstraktion“ und bedeutet „Abziehen“, „Ablösen“ und auch „Fortreißen“. Dies ist eines des wichtigsten Werkzeuge wissenschaftlichen Arbeitens. Man soll nicht nur bei den Fakten bleiben, sondern diese auch verstehen und erklären können. Dazu muss man eine Theorie haben oder selbst entwickeln. Die Theorie benutzt Abstraktionen, um Sachverhalte „in abstracto“ beschreiben und deuten zu können. Mit Abstraktionen werden Sachverhalte, Zusammenhänge, Strukturen und Prozesse sichtbar, erfahrbar, wahrnehmbar, die ohne die Abstraktionen unerkannt geblieben wären.

Mit Abstraktionen werden Sachverhalte, Zusammenhänge, Strukturen und Prozesse auf eine gedankliche und sprachliche Stufe gehoben und dadurch kommunizierbar. Dies gelingt meistens nicht auf Anhieb, sondern erst im Rahmen eines komplexen „Sprachspiels“ (vgl. Wittgensteinsche Sprachspiele).

Für jede Wissenschaft ist Abstraktion ein essenzielles Werkzeug. Hinzu kommt der Anspruch der „Wahrheit“, d.h. jede Theorie muss angezweifelt, überprüft und ggfs. falsifiziert werden. Übrig bleibt nicht „die Wahrheit“, sondern ein Modell als Reduktion der Wirklichkeit und als „noch-nicht-Widerlegtes“.

Jede Abstraktion enthält jedoch auch einen Keim zur Ideologisierung. Dann wiederholt sich das Festgefahrensein auf einer neuen Stufe, zwar schon etwas abstrakter, aber immer noch festgefahren. Für die oben genannten Kräfte und Leitfragen gilt dies analog: Als plumpes Rezept verstanden verfehlen sie ihr Ziel.

Ideologisierte Wissenschaft ist schlechte Wissenschaft. Sie dient nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern einer Ideologie. Selbst auf Nobelpreisebene gibt es genug Geschichten der Ideologisierung von Wissenschaft, siehe Blog-Beitrag „Lernen als Fixieren und Lösen„.

Jede neue Generation von Wissenschaftlern ist aufgerufen zu zweifeln, selbst zu prüfen und ggfs. zu falsifizieren und nicht einfach zu glauben. Das gilt für wissenschaftliche Erklärungsversuche ebenso wie für das Verhältnis von Wissenschaft zur Gesellschaft und Realität generell. Umgekehrt ist jede neue Generation von Wissenschaftlern eine Chance für Wissenschaft und Gesellschaft selbst.

Wissenschaft dient der Wahrnehmungs- ebenso wie der Bewusstseinserweiterung: Durch empirische Wissenschaften werden Sachverhalte wahrgenommen, die ohne empirische Forschung nicht sichtbar gewesen wären. Durch Theorien werden Muster in der Realität sichtbar, die ohne diese Theorien unerkannt geblieben wären. Damit besteht die Chance, sich mehr bewusst zu werden als ohne Wissenschaft. Durch die Scientific Community werden Theorien überprüft und falsifiziert. Dadurch ist man nicht auf sich allein gestellt und profitiert von einer Teamleistung.

Bewusstsein zeigt sich aber nicht nur im Wahrnehmen und Erklären können. Bewusstsein als eine solche Kompetenz zu degradieren wäre deutlich zu kurz gegriffen. Je nach Stufe der Vergeistigung liegt Anderes im Fokus des Bewusstseins und der Wahrnehmung.

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Informatik nimmt unter den Wissenschaften eine besondere Rolle ein, da sie

  • den Vergeistigungs- und Manifestierungsprozess mechanisiert und automatisiert
  • die Arbeitswelt informatisiert
  • den Menschen und die Gesellschaft durch Technologisierung transformiert
  • menschliche und gesellschaftliche Strukturen und Prozesse neu definiert
  • die Frage nach dem Wesen von Bewusstsein neu stellt

Es gibt nicht „die“ Zukunft. Ob Informatik Vergeistigung mehr fördert oder bremst — und wenn ja, wessen Vergeistigung? — ist noch nicht entschieden. Solange Optimierung und Effizienzsteigerung als gesellschaftliche Ziele bevorzugt verfolgt werden und sich die Informatik nur als Diener der Gesellschaft sieht ohne selbst Verantwortung zu übernehmen (siehe Blogeintrag), wird scheinbar paradox die Bremswirkung überwiegen. Für dieses scheinbar paradoxe Geschehen liefert das dargestellte Modell eine Erklärung und einen Ausweg.

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Der Glaube an unsere Internet-Sicherheit ist Cargokult

Magisch-mythische Denk- und Glaubensformen heißen heute Cargokult oder Cargo-Kult. Beispiele findet man in der langen Liste der Cargo-Kultformen.

Cargokult gibt es auch in der Informatik, sogar in der grundlegenden Sicherheitsbranche:

So etwas Grundlegendes wie die Internet-Sicherheit ist einem Cargokult zum Opfer gefallen. Der Glaube an unsere Sicherheit im Internet mittels https (Jeder glaubt an das Schloss-Icon im Browser), SSL, TLS, … ist Cargokult, wie Daniel Molkentin es in seinem Blog-Post „Fighting Cargo Cult – The Incomplete SSL/TLS Bookmark Collection“ beschreibt. Dies hat er auch auf der Froscon 2014 in seinem Vortrag ausführlich erklärt, siehe Video des Vortrag (en).

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Portale für die Informatik-Lehre

In [Sanders 2013] beschreiben Kate Sanders, Marzieh Ahmadzadeh, Tony Clear, Stephen H. Edwards, Mikey Goldweber, Chris Johnson, Raymond Lister, Robert McCartney, Elizabeth Patitsas, und Jaime Spacco die vielen Portale, die es mittlerweile zur Unterstützung für die Informatik-Lehre gibt:

Außerdem beschreiben Sie Ihre eigene Datenbank an Informatik-Prüfungsfragen, die „Canterbury QuestionBank„. Sie besteht aus Multiple Choice-Prüfungsfragen (MC) für die beiden grundlegenden Informatik-Einführungsveranstaltungen, in den USA genannt CS1 und CS2. Die Bloomsche Taxonomie wird unterstützt, d.h. die Fragen werden nach Schwierigkeitsgrad klassifiziert. Die Klassifikationen sind „Knowledge, Comprehension, Analysis, Application, Synthesis, and Evaluation“, siehe Kap. 3.2.8 auf S. 37. Dabei verteilt sich die Häufigkeit der gesammelten Aufgaben auf die verschieden Stufen der Bloomschen Taxonomie wie folgt:

Bloom Level Anzahl Prozent
Erinnern 116 23%
Verstehen 185 36%
Anwenden 18 4%
Analysieren 165 32%
Synthese 21 4%
Evaluation 5 1%

Offenbar sind Anwenden, Synthese und Evaluation am schwierigsten in MC-Fragen zu verpacken. Alle Informatik-Dozentinnen und -Dozenten sind eingeladen, zu der Datenbank weitere interessante Aufgaben beizutragen. Dadurch erreicht man einerseits Arbeitsteilung und andererseits Konsens im grundlegenden Wissens- und Kompetenzkanon eines Fachgebietes. Bei der Nutzung des Internets für diesen Zweck sollte die Informatik mit gutem Beispiel voran gehen.

Literatur

[Sanders 2013] Kate Sanders, Marzieh Ahmadzadeh, Tony Clear, Stephen H. Edwards, Mikey Goldweber, Chris Johnson, Raymond Lister, Robert McCartney, Elizabeth Patitsas, and Jaime Spacco. 2013. The Canterbury QuestionBank: building a repository of multiple-choice CS1 and CS2 questions. In Proceedings of the ITiCSE working group reports conference on Innovation and technology in computer science education-working group reports (ITiCSE -WGR ’13). ACM, New York, NY, USA, 33-52. DOI=10.1145/2543882.2543885 http://doi.acm.org/10.1145/2543882.2543885, http://dl.acm.org/citation.cfm?id=2543882

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Einführung in das wissenschaftliche Schreiben mit Ludwig Wittgenstein

Die beiden Philosophien von Ludwig Wittgenstein eignen sich gut
zur Einführung ins wissenschaftlichen Schreiben:

(1) Erste Stufe des wissenschaftlichen Schreibens

Nur sagen, was sich objektiv sagen und belegen lässt.
Über alles andere sollte man schweigen, d.h. weglassen.
Subjektive Meinungen und Vorlieben haben in einer wiss. Arbeit nichts zu suchen.
„Ich“ und „Wir“ sind in der wiss. Arbeit verboten.

Vorurteile sind als solche zu erkennen und forschend durch belegbare Urteile zu ersetzen.
Methodisches, reflektiertes Vorgehen ist dabei Pflicht.

Das was sich sagen lässt, lässt sich klar und deutlich,
gut strukturiert und nachvollziehbar sagen.

Formale Kriterien, richtiges Zitieren gehören dazu,
siehe „Regeln für wissenschaftliche Arbeiten
oder „Leitfaden zur Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten
oder [Heesen 2014] Bernd Heesen: „Wissenschaftliches Arbeiten –
Methodenwissen für das Bachelor-, Master- und Promotionsstudium“
http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-43347-8

(2) Zweite Stufe des wissenschaftlichen Schreibens

Wissenschaftliches Schreiben versucht immer wieder,
die Grenze des Sagbaren zu verschieben.

Zunächst beginnt es subjektiv mit vagen Vorstellungen und
diffus wahrgenommenen Diskrepanzen und Dissonanzen,
deren Spur man systematisch folgt,
um immer klarer objektiv „be-greifen“ zu können,
um was es eigentlich geht.
Forschen und Detektivarbeit haben viel gemein.

Es handelt sich also um einen Prozess aus der Subjektivität heraus
in das Begreifen des Objektiven hinein.

Sabine Knauer beschreibt in [Knauer 2006] diesen Prozess
treffend folgendermaßen:

„Ich versuche […] einen Weg aus der Sprachlosigkeit,
im […] Sinne in einer metasubjektiven Reflexion
‚Begriffe‘ herauszuarbeiten und anzubieten,
mit denen man bisher nicht Gesagtes ‚sagbar‘ machen kann,
womit es nicht nur der sozialen Selbstverständigung zugänglich wird,
sondern ggf. auch in wissenschaftlicher Rede verbreitet
und zur Diskussion gestellt werden kann.“

Die beiden Stufen entsprechen ungefähr den beiden Philosophien Wittgensteins:
(1) Tractatus (die frühe Philosophie Wittgensteins)
(2) Sprachphilosophie (die späte Philosophie Wittgensteins)

ad (1): Die erste Stufe beruht auf dem Weltbild,
dass es eine objektive Wahrheit gäbe
und ich nur meine eigene Subjektivität genügend unterdrücken müsse,
um der Wahrheit näher zu kommen.
Mein Wollen, meine Interessen, Meinungen und Vorlieben muss ich mir also selbst verbieten,
dann würde es mit dem wissenschaftlichen Arbeiten klappen.
Diese Art von wissenschaftlicher Arbeit ähnelt
eher einer kombinatorischen Suche wie beim Puzzeln.
Input ist ein Problem, Output ist eine Lösung.
Computer können diese Art von Arbeit gut unterstützen,
vielleicht eines Tages sogar selbstständig übernehmen?

ad (2): Zur zweiten Stufe kommt man durch die Wiederentdeckung des Subjekthaften.
Das eigene Wollen, meine Interessen, Meinungen und Vorlieben
sind Quelle und Motor des Prozesses.
Ich bleibe authentisch und muss nichts unterdrücken.
Wissenschaftliches Arbeiten wird hier zu einer ganz persönlichen Angelegenheit,
die man mit Leidenschaft verfolgt und die sich an der gefundenen Realität reibt
ohne etwas zu unterdrücken oder zu ignorieren,
weder im Objektiven noch im Subjektiven.

Das Weltbild der zweiten Stufe sieht das Subjekt nicht mehr
als „Störenfried des Objektiven“ oder als „Fehler im wissenschaftlichen System„,
sondern ganz im Gegenteil als willkommene Quelle und Motor.

Erste und zweite Stufe hören sich wie Gegensätze an,
sind es aber nicht, denn es gilt Beides:
In einer wiss. Arbeit sollte man objektive Erkenntnisse erzielen und nachvollziehbar dokumentieren.
Es gibt objektive Kriterien, die zu beachten sind.
Und gleichzeitig gibt es den Prozess des wiss. Arbeitens,
in dem das Subjektive beachtet und reflektiert werden
und nicht aus dem Dunkeln heraus unbewusst steuern sollte.

Eine Parallele liegt darin, dass die beiden Philosophien Ludwig Wittgensteins
zunächst als Gegensatz begriffen wurden und erst in neueren Auslegungen
die Kontinuität und Weiterentwicklung (also der Reifeprozess) verstanden wird,
vgl. Ludwig Wittgenstein.

Mit der zweiten Stufe soll nicht subjektiver Willkür Tür und Tor geöffnet werden.
Der Maßstab ist und bleibt die objektive Realität,
die mit der je eigenen subjektiven Erkenntnismöglichkeit erschlossen wird.
Das Subjektive darf jedoch nicht als Konstante vorgestellt werden,
sondern durchläuft selbst einen Reifeprozess,
mit dem die Erkenntnismöglichkeiten wachsen.

Am besten gehen beide Prozesse Hand in Hand:
Auf der einen Seite die Gewinnung objektiver Erkenntnisse,
auf der anderen Seite der Prozess der Subjektreifung.

Subjekte können nicht „erzogen“ werden, sie können nur reifen.
So etwas wie eine „Erziehungswissenschaft“ gibt es nicht für Subjekte,
obwohl sich ein Teilbereich der Bildungswissenschaften so nennt.

Für die Reifung kann man förderliche oder hinderliche Rahmenbedingungen schaffen.
Das Gesellschaftssystem gibt solche Rahmenbedingungen vor.
Deren Wirkung, nicht deren gute Absicht, ist immer wieder wissenschaftlich zu hinterfragen.

Der technische Anteil dieses Rahmens wird immer größer.
Informatik sollte zu einer Wissenschaft der Systemgestaltung reifen,
anstatt nur das technische Rüstzeug dazu zu liefern.

NSA, Google und Facebook wissen heute schon mehr über jeden Menschen
als die eigenen Freunde, Eltern und Dozenten.
Wer oder was erzieht eigentlich unsere Kinder wirklich?

Bereits jetzt ist das Google-Suchergebnis kein objektives mehr,
sondern angepasst an das fragende Subjekt, das auf diese Weise
in der Google-Filter-Bubble gefangen gehalten wird,
vgl. meinen Blog-Eintrag „Filter Bubble“.
Facebook experimentierte bereits „erfolgreich“ mit Manipulationstechniken,
siehe „Datenschutz-Aktivisten gehen gegen Facebook-Experiment vor„,
Facebook verteidigt umstrittenes Psycho-Experiment„,
Facebooks Psycho-Experiment wurde ’schlecht kommuniziert‘„.
Individuelle ebenso wie nationale oder gar globale Steuerung
und Manipulation sind damit leicht und unbemerkt möglich.
Das ist keine technische Frage von Datenschutz mehr.
Der Gesellschaft ist offensichtlich die Kontrolle entglitten:
Obwohl die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten ständig wachsen,
ergreift die Gesellschaft keine Schutzmaßnahmen.
Die Gesellschaft hat sich selbst als Subjekt vergessen.
Statt eines reifen, aufgeklärten Umgangs mit diesem Problem
erleben wir ein Wiedererstarken der Subjektextremisten,
die das Problem mit Gewalt zu lösen versuchen.

Die Subjektvergessenheit oder gar -feindlichkeit ist nicht nur ein individuelles Problem,
sondern auch ein gesellschaftliches.
Eine wissenschaftsgläubige Gesellschaft der Stufe (1) bleibt subjektfeindlich,
solange sie das Subjekt als „Störenfried des Objektiven
oder als „Fehler im wissenschaftlichen System“ betrachtet.
Eine Weiterentwicklung zu Stufe (2) wird zu einer dringlichen gesellschaftlichen Aufgabe.
Dazu muss auch das Bildungssystem etwas beitragen.

Wittgenstein hat seine erste Philosophie 1918 geschrieben
im Glauben, dass dies das letzte Wort der Philosophie sei.
Alles was man sagen könne, sei nun gesagt.
Er brauchte immerhin Jahrzehnte, um zu reifen und
auf der neuen Reifestufe begreifen zu können, dass etwas fehlt.
Daher brauchen wir uns nicht zu schämen,
wenn auch „wir“ (individuell oder als Gesellschaft)
etwas Zeit von Stufe (1) zur Stufe (2) benötigen.

Literaturhinweis:
[Knauer 2006] Sabine Knauer: „Zur (Wieder-)Entdeckung der Lehrkräfte als Subjekte – Ein subjektiv-wissenschaftliches Plädoyer für einen Tabubruch“

http://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-531-90221-0_14.pdf

%0 Book Section
%D 2006
%@ 978-3-531-14857-1
%B Schulentwicklung
%E Rihm, Thomas
%R 10.1007/978-3-531-90221-0_14
%T Zur (Wieder-)Entdeckung der Lehrkräfte als Subjekte – Ein subjektiv-wissenschaftliches Plädoyer für einen Tabubruch
%U http://dx.doi.org/10.1007/978-3-531-90221-0_14
%I VS Verlag für Sozialwissenschaften
%8 2006-01-01
%A Knauer, Sabine
%P 241-256
%G German

[Heesen 2014] Bernd Heesen: „Wissenschaftliches Arbeiten –
Methodenwissen für das Bachelor-, Master- und Promotionsstudium“
http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-43347-8
ISBN: 978-3-662-43346-1 (Print) 978-3-662-43347-8 (Online)

[Kabalak 2007] Alihan Kabalak, Birger P. Priddat: „Wieviel Subjekt braucht die Theorie? Ökonomie/Soziologie/Philosophie“, Springer, 2007, http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-90413-9.

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Nicht quantifizierbare Qualität

Kant: „Die Qualität des Seienden ist allen Begriffen der Quantität schlechthin unzugänglich.“

Wir kennen aus der Entwicklungspsychologie die verheerende Wirkung „unlösbarer Aufträge“, die z.B. Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben und damit die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. Welche Aufträge gibt die Gesellschaft den Bildungseinrichtungen mit?

Wenn uns nun „von außen“ der Auftrag erreicht, wir mögen unsere Qualität messbar sichtbar machen, sollte diesem Dialog zumindest der gedankliche Vorbehalt des Königsbergers vorausgehen, um in keinen argumentativen Hinterhalt zu geraten.

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Öffnung der Hochschulen

Das Video von Lecture2Go ist leider nur im Flash-Format und daher auf vielen mobilen Geräten nicht abspielbar. Sorry.


Originalseite unter https://lecture2go.uni-hamburg.de/konferenzen/-/k/14467

 

Podiumsgespräch 2012

Öffnung der Hochschulen

Vortrag Gesine Schwan

  • Offene Hochschulen sind in der Theorie nicht umstritten. Es gibt nur Widerstand in der Praxis, meist von älteren, männlichen Professoren.
  • Es spricht nichts dagegenn, aber es gibt viel, was dagegen wirkt.
  • falsches Selbstwertgefühl, falscher Stolz
  • Zielkonflikt: Öffnung vs. Qualität
  • Das Erkenntniserwerbsprinzip sei an einem Kindergarten nicht viel anders als an einer Hochschulen, wenn es gelingen soll. (Schwan kennt also keinen Entwicklungsprozess und keine Stufen der Entwicklung. Die Methode bleibe immer gleich. )
  • In POen werde noch ein sehr primitives Weltbild praktiziert. „Akademische Qualität“ sei ein Schockwort.
  • Humboldtsches Bildungsideal: forschend lernen aus eigener Erfahrung in Kommunikation mit anderen, die auch lernen. Ergebnis sei, dass man das Gelernte in seinem Begründungszusammenhang nachvollziehen kann.
  • Das Humboldtsche Lernen sei überall in der Wirklichkeit möglich. Die Hochschule sei dafür kein besonderer Raum. Die Hochschule wird sogar zu einem besonders schlechten Raum, wenn er sich abschneidet von anderen Tätigkeitsfeldern.
  • Potenzialentfaltung statt Mängelbehebung!
  • Konventionell: Frontal + Multiple Choice. Die gut organisierten schaffen das.
  • Potenzialentfaltung kümmert sich um jeden. 3 x Lehrpersonal + Peer Learning …
  • Offene Hochschulen bedeute konsequente Erhöhung der Ressourcen für Hochschulen. Die Heterogenität der Studierendenschaft lasse sich nicht anders bewältigen. Andernfalls werde es unehrlich.

Notizen Podiumsdiskussion

  • Gesine Schwan: „Es gibt eigentlich nichts, was gegen Offene Hochschulen spricht, aber Vieles, was dagegen wirkt.“
  • Offene Hochschulen hat NICHT das Ziel, noch mehr Menschen an die HSen zu bekommen, noch mehr Menschen an den alten Typus „Normstudent“ anzupassen

Gründe für Offene Hochschulen

  • Potenzial nicht ausgeschöpft
  • manche Menschen-Typen nicht hinreichend gewonnen
  • Selektivität des Systems HS fehlerhaft
  • Zu wenig Nicht-Akademiker-Kinder an Hochschulen
  • Zu wenig Migranten an Hochschulen
  • HS noch nicht „intellektuelle Heimat“ für diese Gruppen
  • Problem: große Binnendifferenzierung des deutschen Bildungssystems ohne genügenden Brücken zwischen den verschiedenen Systemen

Ziele des Projektes „Offene Hochschulen“

  • Transdisziplinarität Berufspraxis <=> Wissenschaft
  • Berufspraxis <=> Wissenschaft zusammen bringen, vernetzen
  • Wissenschaftskonzept neu hinterfragen
  • Wie geht der akademische Betrieb mit der Gesellschaft um?
  • Wie geht die Gesellschaft mit dem akademischen Betrieb um?
  • Ist das Thema „Offene HSen“ lediglich eine neue Akquise-Strategie für Hochschulen?

Welche Art von Öffnung ist gemeint?

  • nicht quantitativ, sondern qualitativ

Ideal „Ganzheitliche Bildung“

  • Vorbild Skandinavien

Akademische Qualität

  • große Unterschiede bei Absolventen

Erfolgsfaktoren für die Karriere

  • akademische Qualifikation nicht Voraussetzung
  • gesunde Mischung
  • Diversität in der Arbeitswelt

Strukturen schaffen für zweiten akademischen Frühling

  • Akademische Forschung nach langer Berufserfahrung

Weichen werden viel früher gestellt

  • Schulen haben eine soziale Trennung eingebaut

AG „First-Generation Academics“

  • Bedürfnisse aufnehmen und Maßnahmen entwickeln
  • z.B. Sicherung von Selbstwertgefühl

Zielgruppenkonzept der Hochschulen neu konzipieren

  • Nicht mehr nur der 19-jährige Abiturient
  • Brücken zu allen anderen Bildungsuniversen
  • Diversität
  • Industrie braucht nicht nur akademische Elite
  • Gesellschaft braucht nicht nur akademische Elite

Grundannahmen des akademischen Studiums hinterfragen:

  • Was ist überhaupt akademisch?
  • Muss der Professor die Rolle der akademischen Autorität übernehmen?
  • Weiß der Professor tatsächlich mehr als der Student?
  • Müssen wir Präsenz verlangen?
  • Abitur?
  • Bewertung?
  • Prüfung?
  • Einzelleistung?
  • alleine lernen?
  • Theoretisches Lehrbuch statt praktischer Projekte?
  • Deduktive statt induktive Methoden?
  • Welche Standardisierungen wollen wir?
  • Welche Garantien wollen wir geben?

Wissenschaft 2.0

  • Erst die neue Wissenschaftskultur entwickeln, konstruieren, bestimmen.
  • Dann die Strukturen und Prozesse.
  • Dann die Technik dahinter legen.
  • Sehr viel Rückenwind von der Gesellschaft.
  • Keine Industrialisierung der Wissenschaft!

Offene Hochschulen = „Bildung Unlimited

  • Studium Generale / Individuale
  • Zersplitterung in Fachdisziplinen nur oberflächlich gut

Zielkonflikt Binnendifferenzierung <=> Einheit

  • 100 Jahre Optimierung der Bildungsanstrengungen hat durch Standardisierung und Selektion zu einer immer weiter gehenden Binnendifferenzierung geführt.
  • 50 Jahre Offene Kulturen und Europa verlangen immer mehr nach Pluralität, Interdisziplinarität bis hin zur Integration. Wir brauchen nicht nur Spezialisten, sondern auch Generalisten.
  • 20 Jahre Globalisierung und Internet hat zu einer Innovationsbeschleunigung in den Berufen geführt, für die nicht mehr standardisiert ausgebildet und selektiert werden kann.

Zielkonflikt Selektion <=> Inklusion

  • Selektion: Wir wollen nur die Besten.
  • Inklusion: Niemand darf verloren gehen.
  • => Jeder soll der Beste werden
  • Optimierung der Potenzialhebung
  • Ignorieren der Grenzen der Potenzialhebung
  • => Der Lehrer ist schuld, weil noch nicht hinreichend optimiert?

Offene HSen vs. Öffnung der HSen

  • rechtliche Regelung
  • Liberalisierung des HS-Zugangs
  • 50% des Studiums können auch außerhalb erworben sein
  • => keine Auswirkungen, weil es zu wenig Nicht-Traditionell-Studierende gibt.
  • Welche Rahmenbedingungen braucht eine offene Hochschule? Schwan: Dreimal so viele Dozenten!
  • Chemnitz: 2+4. 2 = Studierfähigkeit.
  • Hebammenfunktion

Öffnung =? Weiterbildung / Öffnung zur Weiterbildung

  • Weiterbildender Master: plötzlich das Prinzip der totalen Kostendeckung?
  • Unsinnig: Wer 1 Jahr Berufserfahrung vor seinem Master sammelt, muss plötzlich alles selber zahlen.

Kapazitätsverordnung verhindere, dass man Kapazitäten in einen berufsbegleitenden Bachelor schiebe.

Fazit: 

  • Nicht nur Öffnung für eine neue Klientel, sondern auch kulturelle Öffnung.
  • Mehr Öffnung erfordert mehr Geld und Personal.
  • „Die IT rettet die Öffnung“.
  • Der politische Wille und die wirksamen Systemanreize passen nicht immer zusammen.
  • Wer lebenslanges Lernen will, dürfe das nicht bestrafen.
  • Bildung auf Sparflamme funktioniere nicht.
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GML²-Tagungsband 2014 erschienen

Die Tagung „Grundfragen Multimedialen Lehrens und Lernens 2014“ (GML² 2014) in Berlin hatte dazu eingeladen, aus den Projekten der Hochschulen im Qualitätspaktes Lehre über den Aspekt „eLearning“ zu berichten. Nun ist der Tagungsband zur GML² 2014 unter http://www.gml-2014.de/Tagungsband-GML-2014/index.html erschienen. Die Druckversion (Waxmann Verlag) ist demnächst erhältlich.

Der Tagungsband gibt eine gute Übersicht über den Aspekt „eLearning“ im Qualitätspakt Lehre in Deutschland.

Unser eigener Beitrag ist auf S. 355 zu finden. Im letzten Abschnitt habe ich mir erlaubt, auch einmal in die Zukunft zu schauen:

Trotz aller Erfolge ist uns klar, dass wir auf dem jetzigen Stand der eLearning-Implementation nicht stehen bleiben dürfen. Das Internet durchläuft zurzeit neue Revolutionen auf allen Ebenen von der tiefsten Technik (Real-Time Web, SPA, SPDY, …) bis hoch zu neuen Nutzungsszenarien (Mobile First, Response Design, Mobile Games, Mobile Learning, Peer Learning, Action Learning…). Meines Erachtens gibt es zuwenig Investition in die Informatik in diesem Bereich. Was wir brauchen ist ein Lern-Ökosystem auf dem neuesten Stand der Technik, über das gemeinsame Anstrengungen gebündelt werden können und Ergebnisse leichter ihren Nutzen entfalten können. Die Quoten von Sharing und Reuse sind noch viel zu schlecht, das Festhalten an alten Strukturen noch zu stark, vgl. The Post-LMS LMS.

Weiterhin: Die Sicherheitsdiskussionen, die durch die NSA-Affäre angestoßen wurden, sind noch erschreckend lückenhaft. Politische Konsequenzen wurden fast keine gezogen. Ob es sich die europäische Wissenschaftslandschaft jedoch erlauben kann, dass NSA und Facebook mehr über jeden einzelnen Studierenden wissen als die eigenen Dozenten, Freunde, Eltern und mit welchen eLearning-Szenarien wir in Zukunft arbeiten wollen, bleiben wichtige Fragen. Europa braucht ein eigenes, vertrauenswürdiges Lern-Ökosystem auf dem neuesten Stand der Technik. Diese politische Konsequenz sollte der europäischen Politik zur Kernsicherung von Zivilisation (vgl. Chomsky) und Wohlstand (innerer ebenso wie äußerer) am Herzen liegen.

Projekte des Qualitätspaktes Lehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg:

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Bilanz 15 Jahre Bologna-Reform

Die Bologna-Reform war für 10 Jahre geplant und nun schon über 15 Jahre alt. Mittlerweile ist sie auch selbst Gegenstand empirischer Untersuchungen und wissenschaftlicher Reflexion, so z.B. in der Dissertation [Bloch 2007] von Roland Bloch, veröffentlicht als Buch [Bloch 2009] mit dem Titel „Flexible Studierende? Studienreform und studentische Praxis“.

Der Wissenschaftsbetrieb selbst war bisher immer auf wissenschaftliche Reflexion und Erkenntnisgewinn ausgerichtet. Das war die große Überschrift über alle Curricula.

Durch die Bologna-Reform haben sich „Hidden Curricula“ in den akademischen Lehrbetrieb eingeschlichen. Deren große Überschrift ist „Anpassung und Optimierung“ statt „Reflexion und Erkenntnisgewinn“. Das ist die Wirkung, die Roland Bloch aufgrund zahlreicher Interviews beobachten konnte und feststellen musste.

Die Bologna-Reform hat einen deutlichen Shift bewirkt in Richtung Ökonomisierung (von sich selbst, seinem Studium, der Lernziele, der Berufsziele), Optimierung (von sich selbst, seiner Lerneffizienz, seinen Karrierechancen, seinen Verdienstmöglichkeiten, Ausnutzung des Systems für den eigenen Vorteil) und Anpassung an die vielen normativen Anforderungen und Regeln des kleinteilig organisierten Lehrbetriebs, an das Post-Bologna-System Hochschule.

Im Bologna-Prozess bedeutet Kompetenzorientierung nicht zuerst die Orientierung auf akademische Kompetenzen. Gemeint sind primär die beruflichen Kompetenzen. Der Nutzen, die Employability, wird immer gleich mitgedacht: „Warum muss ich das lernen? Was bringt mir das für meine spätere Arbeit?“ sind die konsequenten Fragen der durch-optimierten Studierenden.

Die Optimierung macht auch vor dem Lernverhalten nicht Halt. Das Kosten-/Nutzen-Verhältnis wird genau beachtet. So vergleichen die Studierenden, wie viele Wochen sie für eine Klausur „lernen“ mussten, um sie zu bestehen. Fächer, in denen das Kosten-/Nutzen-Verhältnis besser ist, werden bevorzugt, unabhängig vom Inhalt. Das Prinzip gilt auch für die Wahl von Studiengängen und Hochschulen. Predigten der Didaktiker gegen diese Art von „Bulimie-Lernen“ haben keine Chance gegen die Sogwirkung der Systemzwänge: Wenn das System falsche Anreize setzt, haben gut gemeinte Appelle keine Chance. Die Folge ist: „Exploratives Studieren“ bleibt auf der Strecke. Studierende werden zu „optimiert Lernenden“.

Die Selbstoptimierungsfähigkeit wird als Selbstkompetenz verstanden, die ein Teil der Persönlichkeits- und Führungskompetenzen ausmache. Roland Bloch berichtet von privaten Elite-Hochschulen, in denen dieses Prinzip noch einmal eine Steigerung erfährt. Inhalte werden zur Nebensache, da die Absolventen flexibel und überall einsatzfähig sein sollen. In den Curricula liest man daher vermehrt den Rückzug auf die Methodik. In der Studierendenpraxis werden wissenschaftliche Reflexion und Erkenntnisgewinn zu Nebenprodukten.

Aus dem akademischen Bildungsziel (A) „Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit“ wurde (B) „Berufsbefähigung auf akademischem Niveau“. Damit werden Hochschulen mehr dem größeren gesellschaftlichen Bedarf nach (B) gerecht und sorgen immer noch genug für den Selbsterhalt in (A).

Wissenschaft war sich früher selbst genug: Eines der Humboldtschen Bildungsideale ist „Einsamkeit“ im Sinne von Unabhängigkeit und Freiheit. Humboldt forderte das Gegenteil von Berufsorientierung und Employability.

Nun sagt Gesellschaft zur Wissenschaft: „Du hast einen gesellschaftlichen Auftrag. Diene diesem Auftrag. So kostengünstig wie möglich. Ordne Dich unter.“ Gesellschaft stößt Wissenschaft vom Thron höchster Ideale und setzt Optimierung und Anpassung an ihre Stelle. Die Konsequenzen beginnen wir erst zu erfahren, zuerst bei unseren „flexiblen“ Studierenden in ihrer „studentischen Praxis“.

Georg (Friedrich) Simet führt den Unterschied in seinem Artikel „The Concept of Study as Work in the Bologna Reform Process“ zurück auf Plato und Aristoteles und die grundsätzliche Unterscheidung von vita activa und vita contemplativa. Der Mensch beginnt seinen Weg unreif und die vita contemplativa in der Bildungsphase lässt ihn reifen. Als reifer Mensch beginnt er dann die Berufsphase als vita activa. Wenn er gleich mit der vita activa begonnen hätte, optimiert er zwar früher seine Handlungskompetenzen, aber ohne Reife. Ein solches Leben ist angepasster und optimierter, aber unreifer.

Sicher ist diese Betrachtung sehr dualistisch. Warum sollte man vita activa und vita contemplativa so strikt trennen? Integrationsmodelle sind durchaus möglich. Z.B. gibt es auch kontemplative Arbeitsformen. Aber die Einseitigkeit der Nur-Aktivität ist die Ursache vieler Übel unseres Bildungssystems.

Mittlerweile ist seit des Erscheinens des Buches 2009 einige Zeit vergangen. Der Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Prof. Dr. Holger Burckhart, Präsident der Uni Siegen, hat seine Kollegen zu einer Bilanz von 15 Jahren Bologna aufgefordert und eine AG „Europäische Studienreform“ gegründet. Unter hrk-nexus findet man das Ergebnis. Die Empfehlung „Europäische Studienreform“ der HRK-Mitgliederversammlung ist zu finden unter nexus-Link. Auf Ingenieur.de findet man eine kurze Zusammenfassung. Danach gibt es positive und negative Bewertungen:

  • Studierende werden viel ernster genommen
  • Das Hauptziel „Hochschulraum Europa“ wurde jedoch nicht erreicht.
  • Übergreifenden Bildungsideen wurden aus dem Auge verloren: Mobilität, das selbstverantwortliche Lernen, den Freiraum zum Denken und das Reflektieren
  • Studierende werden viel früher an die Praxis herangeführt => größere Marktanpassung => weniger kritische Distanz, was Burckhart überspitzt in der Formulierung „Das „Abrichten“ auf einen Arbeitsplatz kann nicht Ziel des Studiums sein. Wir wollen keine Roboter produzieren.“ Besonders die Ingenieurstudiengänge haben hier Nachholbedarf.
  • „Wir müssen zurück zur akademischen Persönlichkeitsbildung“, siehe DLF-Interview
  • Bologna darf nicht als Sparmodell instrumentalisiert werden

Einiges davon passt zu der Bloch-These Optimierung und Anpassung“ statt „Reflexion und Erkenntnisgewinn“. Das war aber zuerst ein Gesellschaftstrend und wurde erst durch Bologna zum Hochschultrend. Man kann allgemein feststellen, dass sich die Gesellschaft schneller entwickelt als die Hochschulen. Der Veränderungsdruck in Hochschulen kommt von außen, nicht von innen durch Reflexion und Erkenntnisgewinn.

Literaturhinweis: Diss [Bloch 2007] => Buch [Bloch 2009]

Verfasser: Bloch, Roland
Titel: Flexible Studierende?
Zusatz zum Titel: Studienreform und studentische Praxis
Verfasserangabe: Roland Bloch
Verlagsort: Leipzig
Verlag: Akad. Verl.-Anst.
ISBN: 978-3-931982-66-9
Erscheinungsjahr: 2009
Umfang: 336 S. : graph. Darst.
Hochschulschriftenvermerk: Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 2007
Notation: AKAR
Schlagwort: Deutschland / Hochschulreform / Bologna-Prozess
Link: http://digitool.hbz-nrw.de:1801/webclient/DeliveryManager?pid=3260397&custom_att_2=simple_viewer
Linkinfo: Link-Text: Flexible Studierende?; Interna: Inhaltsverzeichnis
Signatur: 11 = AKAR1010
Verbundkatalog: HT015862957

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Epistemologische Evolution

Evolution? Da fällt einem Charles Darwin ein.
Evolution wird in der Schule im Biologieunterricht erwähnt:
Evolution fand über Jahrmillionen statt
und das Ergebnis sehen wir heute, so das Schulwissen.
Heutzutage erscheinen in diesem Schulweltbild aktuelle Evolutionsphanömene höchstens als Randerscheinung, etwa auf den Galapagos-Inseln.
Im Allgemeinen gilt Evolution heute als abgeschlossen.

Das ist also die in der Schule vermittelte Hierarchie:

Wissenschaft
        -> Biologie
                -> Evolution

Dabei kann man den Evolutionsbegriff auch viel weiter fassen:

  1. biologische Evolution
  2. epistemologische Evolution (Erkenntniswege und -methoden)
  3. technische Evolution (Werkzeuge)
  4. Wirtschaftsformevolution
  5. Gesellschaftsevolution
  6. Sozio-technische Koevolution

Die zweite Stufe, die epistemologische Evolution, hat verschiedene Erkenntniswege und -methoden ausprobiert, verworfen und weiterentwickelt. Eine bewährte Erkenntnismethode ist dabei die wissenschaftliche.

Die genannte Herleitung dreht die Hierarchie herum: Evolution wird zum Oberbegriff und Wissenschaft ist nur noch einer von vielen Unterbegriffen:

Evolution
        -> epistemologische Evolution
                -> Wissenschaft

Heute hören wir oft: „Wir stehen in einem globalen Wettbewerb. Das Starke wird sich weiterentwickeln. Das Schwache wird verschwinden.“ Dies sind Merkmale eines Evolutionsprozesses, die hier beschrieben werden. Wir sind offenbar mitten in einem Evolutionsprozess.

Wissenschaft dient dem Erkenntnisgewinn. Die Frage ist nur: Die Erkenntnis von welcher Welt, von welcher Stufe der Evolution, der Stufe von gestern oder der von morgen?

Evidenzbasierte Wissenschaft heißt, dass Theorien aufgrund empirischer Erhebungen aufgestellt oder durch empirische Daten bestätigt werden. „Nicht raten, sondern messen“ heißt die Devise der evidenzbasierten Wissenschaft. Aber die Welt von morgen lässt sich nicht vermessen. Also kann solche Wissenschaft nur rückwärts gewandt sein.

Wenn der akademische Betrieb seine Studierenden auf evidenzbasierte Wissenschaft einschwört und alles andere ablehnt, reduziert er deren Handlungs- und Wirkungsradius. Zwar gibt es in der technischen Evolution, der Wirtschaftsformevolution, der Gesellschaftsevolution und der sozio-technischen Koevolution primär keine Erkenntnisse zu gewinnen, sondern zu handeln, zu konstruieren, zu partizipieren, zu erfinden und zu gestalten, doch ist die Relevanz ungleich höher: Schließlich handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als unsere Welt, in der wir morgen leben werden.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sagte einmal: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Dabei wollen wir bei der Gestaltung von Zukunft die besten Erkenntnisse und Methoden einsetzen, die wir haben. Es kann nicht sein, dass wir mit wissenschaftlicher Akribie unsere Vergangenheit aufarbeiten und uns bei der Gestaltung von Zukunft im Blindflug befinden.

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