Vortrag von Jörn Loviscach am 26.6.2015 zum Thema Digitalisierung in der Bildung:
Der Videotext auf Youtube dazu: „Externe Referenten sowie Dozenten und Mitarbeiter der Hochschule Fresenius diskutierten am 26. Juni zentrale Fragen zum digitalen Wandel im Sinne einer Ergänzung der Lehre sowie deren Möglichkeiten und Grenzen. Jörn Loviscach, Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik sowie Themenpate im Hochschulforum Digitalisierung für Innovationen in Lern- und Prüfungsszenarien, leitete den 1. Tag der digitalen Lehre mit einer Frage ein: „Lernst du noch oder verstehst du schon?“ Bei ihm schrillten immer die Alarmglocken, wenn er höre, dass jemand noch lernen müsse. „Wer sich hinsetzt und „lernt“, will wahrscheinlich eher Lösungsrezepte pauken und weniger Hintergründe und Zusammenhänge verstehen“.“
Sehr schön das Fazit auf der letzten Folie: Digitalisierung macht Bildung nicht per se besser: Etwas wird nicht dadurch gut, dass es digitalisiert wird.
Ein differenzierterer, kenntnisreicherer, weitblickender Dialog wäre angebracht.
Folgende Aspekte der Digitalisierung findet Jörn Loviscach interessant:
Digitalisierung als
– Belehrmaschine
– Entdeckmaschine
– Verstehmaschine
– Schummelmaschine
– Abschöpfmaschine
Was uns dabei fehlt sind folgende Aspekte:
- Kommunikationsmaschine
- Kooperationsmaschine
- Kollaborationsmaschine
- The future is mass collaboration.
- Globale Vernetzung
- Simulationsmaschine
- Game Engine
Es fehlt auch der Aspekt der „Konstruktion neuer Welten“ ([Frank 2009]):
Geld hat eine neue Welt erschaffen, die Finanzwelt (mit allen Vor- und Nachteilen). Geld dient nicht nur dem Komfort der alten Welt, sondern erschafft ein neues Universum mit eigenen Spielregeln und eigenen Playern. Es ist nicht nur ein Paralleluniversum, sondern hat teils massive Rückwirkungen auf „die alte Welt“.
Genauso verhält es sich mit dem Digitalen. Das Digitale dient nicht nur der physischen Welt und macht das Leben darin leichter (oder schwerer …), sondern ist eine Art Meta-Infrastruktur zur Erschaffung neuer Universen mit eigenen Spielregeln und eigenen Playern. Es werden nicht nur Paralleluniversen geschaffen. Diese haben auch teils massive Rückwirkungen auf „die alte Welt“.
F.J. Radermacher sieht in der Dematerialisierung des Wohlstands die Zukunft der gesellschaftlichen Entwicklung, siehe meinen alten Blogbeitrag „Dematerialisierung des Wohlstands„. Es geht also nicht um das Ja oder Nein zum Digitalen, sondern um die gesellschaftliche Aufgabe der Eroberung, Nutzbarmachung und Zivilisierung der neuen Universen. So wie vor 100 Jahren die Völker sich einen Wettlauf um die Eroberung der „Neuen Welt“ lieferten, so findet heute ein Wettlauf um die Eroberung des Digitalen statt. An den Internet-Giganten kann man studieren, wie klar dies erkannt wurde und wie strategisch man dort vorgeht.
Wenn man die Welt erorbern will, oder eine neue Welt erschaffen will, kann man nicht im Sandkasten (oder im Klassenzimmer) sitzen bleiben.
Gunter Dueck sagte einmal in einem Vortrag: Nun haben wir das Internet schon über 20 Jahre und sie diskutieren hier in Deutschland immer noch darüber, ob wir es haben wollen.
Zur These von der „Dematerialisierung des Wohlstands“ ist hinzuzufügen, dass es auch um die Demateralisierung des Denkens geht. Die Anhaftung ans Konkrete, an Greifbares, an handfeste Lösungsrezepte ist Kennzeichen eines materiellen Denkens. Wenn man eine Klausur bestehen will, scheint das beste Rezept zu sein, alle Lösungen darin bereits auswendig zu kennen. Klausuren, die solche Erfolgsstrategien zulassen, fördern die Anhaftung und verhindern Reifung.
Die Loslösung davon, also Abstraktion, erfordert
- den Mut zu Fehlern
- den geschützten Raum für Fehler
- Erfahrung
- Reflexion
- Erfahrungswissen
- Vernetzung
- Anwendung
- selber denken
- selber ausprobieren
- Reife
Das war schon immer so. Schließlich hieß das Abitur ja mal „Reifezeugnis“. Neu ist dass das Digitale den Bedarf an dematerialisiertem Denken massiv steigert.
Literatur: [Frank 2009] Ulrich Frank: „Die Konstruktion möglicher Welten als Chance und Herausforderung der Wirtschaftsinformatik“, in: Wissenschaftstheorie und gestaltungsorientierte Wirtschaftsinformatik, Springer-Verlag, 2009, pp. 161-173. Springer-Link: http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-7908-2336-3_8